Bundestagswahl 2005: Als die SPD die Umfragen besiegte
Der 22. Mai 2005 ist ein bitterer Tag für die SPD. Schon bevor um 18 Uhr die Wahllokale in Nordrhein-Westfalen schließen und die ersten Prognosen über die Fernseher flimmern, wissen die Genossen im Willy-Brandt-Haus: Die Herrschaft der Sozialdemokraten im Stammland zwischen Rhein und Ruhr ist nach 39 Jahren gebrochen. Am Ende liegt die CDU mit 44,8 Prozent deutlich vor der SPD, die 37,1 Prozent der Stimmen erhält. Ein Desaster.
Neuwahl nach dem Desaster in Nordrhein-Westfalen
Bereits kurz nach 18 Uhr tritt SPD-Chef Franz Müntefering im Willy-Brandt-Haus vor die enttäuschten Genossen. Seine Miene ist versteinert als er ihnen mitteilt, er habe bereits mit Bundeskanzler Gerhard Schröder vereinbart, dem Parteipräsidium am folgenden Tag eine Neuwahl im Bund vorzuschlagen.
Um Punkt 20 Uhr tritt Schröder selbst im Kanzleramt vor die Presse. Durch das „bittere Wahlergebnis“ in Nordrhein-Westfalen sei die Grundlage für die Fortsetzung der Arbeit von Rot-Grün im Bund infrage gestellt. Deshalb halte er es für seine Pflicht, „darauf hinzuwirken, dass der Herr Bundespräsident von den Möglichkeiten des Grundgesetzes Gebrauch machen kann, um so rasch wie möglich – also realistischerweise für den Herbst dieses Jahres – Neuwahlen zum Deutschen Bundestag herbeizuführen“.
„Schulter an Schulter“ in den Bundestagswahlkampf
Damit ist der Bundestagswahlkampf eröffnet. Die CDU trifft Schröder damit sichtbar auf dem falschen Fuß. Zwar bekräftigt Generalsekretär Volker Kauder: „Die CDU ist für Neuwahlen gerüstet“, und CSU-Chef Edmund Stoiber sagt, er „begrüße diesen Schritt ganz außerordentlich“, doch ist zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal klar, wer die Konservativen als Spitzenkandidat anführen wird.
Für die SPD gibt Parteichef Müntefering dagegen noch am NRW-Wahlabend die Parole aus, die „bisherige Konstellation“ (also er als SPD-Vorsitzender und Schröder als Kanzlerkandidat) werde „Schulter an Schulter“ in die Wahl ziehen. Zu diesem Zeitpunkt liegen die Sozialdemokraten in den Umfragen weit abgeschlagen mehr als 20 Prozentpunkte hinter CDU und CSU. Einer schwarz-gelben Regierung wird eine komfortable Mehrheit im Bundestag vorhergesagt.
„Besinnung auf die traditionellen Werte der SPD“
Daran hat sich auch am 1. Juli wenig geändert. An diesem Freitag stellt Gerhard Schröder im Bundestag die Vertrauensfrage, die er wie beabsichtigt verliert. Fast drei Wochen später löst Bundespräsident Horst Köhler das Parlament auf und machte den Weg frei für die Neuwahl am 18. September. Die SPD-Kampagne läuft da bereits auf Hochtouren.
Am 5. Juli stellen Schröder und Müntefering in Berlin das „Wahlmanifest“ der SPD vor. Darin finden sich neben einem Elterngeld für Mütter und Väter, der Mindestlohn, die Bürgerversicherung und eine Reichensteuer. „Es ist eine Besinnung auf die traditionellen Werte der SPD und kann so helfen, die Konfrontation zu Schwarz/Gelb zu verschärfen und gleichzeitig die linke Flanke zu Lafontaine und Gysi zu schließen“, erinnert sich Frank Stauss, dessen Agentur damals die Wahlkampagne der SPD entwickelte, in seinem Buch „Höllenritt Wahlkampf“.
„Die SPD hat ein Wahlprogramm, ein komplett neues Design, einen Slogan, eine Kampagne – vor allem aber eine Richtung“, schreibt Stauss über diesen Zeitpunkt zweieinhalb Monate vor der Wahl. Allein in den Umfragen ist von all dem noch nichts zu spüren: Die SPD liegt noch immer mehr als 20 Punkte hinter der CDU. „Es bleibt alles in Risiko“, bilanziert Stauss deshalb, „aber der Spirit im Team ist klasse“.
Ein kämpferischer Bundeskanzler
Auch beim SPD-Wahlkampfauftakt in Schröders Heimatstadt Hannover am 13. August beträgt der Unterschied zur Union noch immer 14 Punkte. Mehr als 10.000 Menschen bevölkern an diesem Tag den Opernplatz um den Bundeskanzler zu hören und der heizt ihnen ordentlich ein. Wichtiges Thema: Schröders Nein an einer deutschen Beteiligung am Irak-Krieg 2003. „Er findet die richtige Balance zwischen Bilanz, Attacke, Humor und Ernst“, erinnert sich Frank Stauss.
Das gilt auch für das TV-Duell mit Angela Merkel drei Wochen später. Die Blitzumfragen aller vier Meinungsforschungsinstitute sehen Schröder nach den 90 Minuten im Fernsehen als klaren Sieger. Das macht sich auch bei der „Sonntagsfrage“ bemerkbar: Am 7. September, elf Tage vor der Wahl, liegt die SPD bei 34 Prozent. Die CDU sehen die Forscher bei 41 Prozent. Schwarz-Gelb wäre damit ohne Mehrheit.
Dicke Überraschung am Wahlabend
Und noch sind eineinhalb Wochen Zeit. Die SPD wirft noch einmal alles auf die Straße, die Wahlkämpfer sind unermüdlich im Einsatz – allen voran der Bundeskanzler. Bei der Abschlusskundgebung am 16. September platzt der Berliner Gendarmenmarkt aus allen Nähten. Wieder wollen mehr als 10.000 Menschen Schröder hören. Die letzte Umfrage vor der Wahl sieht die SPD bei 32,5 Prozent, die CDU bei 41,5. So geht es ins Wahlwochenende.
Bei den ersten Hochrechnungen am Sonntag kurz nach 18 Uhr riecht alles nach einer Überraschung. Die CDU landet bei weniger als 37 Prozent, die SPD bei mehr als 33. Im Laufe des Abends nähern sich die beiden Parteien immer weiter an. Am Ende liegt die CDU mit 35,2 Prozent nur einen Punkt vor der SPD. Der komfortable Vorsprung von mehr als 20 Punkten ist innerhalb von drei Monaten fast auf einen Gleichstand geschmolzen. In Nordrhein-Westfalen, dem Auslöser der vorgezogenen Neuwahl, geben mehr als eine Million Menschen mehr der SPD ihre Stimme als bei der Landtagswahl.
Dirk Bleicker | vorwärts
ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.