Geschichte

Brot und Freiheit

von Die Redaktion · 5. Januar 2006
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Als am 23. Mai 1863 Ferdinand Lassalle (1825-1864) mit Vertretern von Arbeitervereinen in Leipzig den Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein (ADAV) gründete, entstand nicht nur eine politische Partei. Es war auch eine historische Weichenstellung für einen "europäischen Weg" der gesellschaftspolitischen Reformen.

Dieser Weg führte zum Sozialstaat, den es so nur in Westeuropa gibt. Diese folgenreiche Weichenstellung bewirkte Lassalle, weil er engagierte Arbeiter für die Idee gewann, ihre Interessen nicht nur in Gewerkschaften zu vertreten (wie z.B. in den USA), sondern in einer eigenen politischen Partei sowohl für politische Freiheit und Demokratie als auch für ihre materiellen Interessen zu kämpfen.

August Bebel formulierte 1870 die Einsicht, dass die Akzeptanz der Demokratie an soziale Voraussetzungen gebunden ist: "Was nützt ihm (dem Arbeiter) die bloße politische Freiheit, wenn er dabei hungert, wenn seine Lage sich nicht verbessert, er vor wie nach der vom Kapitalisten ausgebeutete Mensch ist, der sein ganzes Leben sich plagen und abrackern muss, um schließlich elend zu Grunde zu gehen?"

Ein Machtfaktor im Obrigkeitsstaat

Der Kerngedanke, den Kampf für politische Demokratie und Gerechtigkeit zu verbinden, ist auch ein zentraler im "Eisenacher Programm" der 1869 von Bebel und Liebknecht gegründeten Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP) und im Gothaer Programm von 1875. Als sich auf dem Gothaer Parteitag 1875 die bisher konkurrierenden Parteien ("Lassalleaner" und "Eisenacher") zur Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands zusammenschlossen, entstand die erste sozialistische Massenpartei, die das 1871 eingeführte Reichstagswahlrecht offensiv nutzte und selbst im deutschen Obrigkeitsstaat zu einem nicht zu ignorierenden Machtfaktor wurde: Bei den Reichstagswahlen 1912 wurde die SPD mit fast 35 Prozent auch zur stärksten Reichstagsfraktion. In ihrer Hochburg Sachsen erhielt sie 1903 sogar 58,8 Prozent. (Selbst Bismarck erklärte schon in den achtziger Jahren, dass viele bürgerliche Abgeordnete seinen Sozialversicherungsgesetzen nur aus Angst vor den Sozialdemokraten zugestimmt haben.)

Neben der politischen Partei SPD wurden noch drei weitere Säulen der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung immer bedeutender:

- die Gewerkschaften, die die Arbeiter in den Betrieben organisierten und wahrnehmbare Verbesserungen der Arbeits- und Lebensbedingungen erkämpften,

- die Konsumgenossenschaften, teilweise auch Produktivgenossenschaften, die einerseits Arbeitsplätze zu menschenwürdigen Bedingungen schufen und andererseits ihren Mitgliedern preisgünstige Einkaufsmöglichkeiten boten,

- die zahlreichen Kultur- und Freizeitvereine (u.a. Arbeitersport- und Arbeitergesangsvereine) sowie, neben dem Zentralorgan Vorwärts, eine breite Palette sozialdemokratischer Zeitungen, Zeitschriften und Bücher.

Eine Gesellschaft ohne Not und Unterdrückung

Nicht nur die in den sozialdemokratischen Medien vermittelten Ideen und Werte des Demokratischen Sozialismus, die Visionen einer echten und solidarischen Gesellschaft ohne Not und Unterdrückung, prägten das Denken und Verhalten der Menschen. Im Alltag sozialdemokratischer Milieus, in einer Hoffnung und Ermutigung, Schutz und Hilfe bietenden Solidargemeinschaft, wurden die Werte der Solidarität und Gerechtigkeit für Sozialdemokraten existenziell erfahrbar. Arbeiter, im real existierenden Kapitalismus nur Kostenfaktor für die Wirtschaft, konnten zu Menschen und Bürgern mit vielfältigen politischen, sozialen und kulturellen Aktivitäten werden. Der Begriff "Bürger- und Zivilgesellschaft", der heute in den sozialwissenschaftlichen Diskussionen Hochkonjunktur hat, war in der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung schon soziale Wirklichkeit geworden. Die Visionen einer solidarischen Gesellschaft und die Erfahrungen in der Solidargemeinschaft motivierten zahlreiche "Aktivproletarier" in einer ungerechten Gesellschaft, selbstlos und opferbereit für eine bessere Gesellschaft zu kämpfen.

Von Horst Heimann

Quelle: vorwärts 5/2003

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