Geschichte

Brandts Politik und seine Visionen können uns weiterhin Richtschnur sein

Der Antritt von Willy Brandt als Bundeskanzler im Jahr 1969 eröffnete neue politische Horizonte. Ein modernes Denken zog in das Kanzleramt und strahlte in das ganze Land. Das wirkt bis heute weiter, schreibt Bundekanzler a.D. Gerhard Schröder.
von Gerhard Schröder · 21. Oktober 2019
Wahl vor 50 Jahren: So wie Willy Brandt Deutschland nach außen neu positionierte, hat er auch im Inneren durch eine klare und mutige Reformpolitik die Gesellschaft und das Land modernisiert, schreibt Gerhard Schröder.
Wahl vor 50 Jahren: So wie Willy Brandt Deutschland nach außen neu positionierte, hat er auch im Inneren durch eine klare und mutige Reformpolitik die Gesellschaft und das Land modernisiert, schreibt Gerhard Schröder.

Willy Brandt ist eine der Lichtgestalten der deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert. Für mich und für meine Generation war er ein faszinierender Mensch und ein beeindruckender Politiker. Und diese Wirkung ist bis heute zu spüren – mehr als ein Vierteljahrhundert nach seinem Tod.

Der Antritt von Willy Brandt als Bundeskanzler im Jahr 1969 eröffnete neue politische Horizonte. Ein modernes Denken zog in das Kanzleramt und strahlte in das ganze Land. Es ging um das Aufbrechen von rückwärtsgewandten Strukturen unter dem Stichwort „Mehr Demokratie wagen“, um einen neuen Blick für die Verantwortung der Industrieländer gegenüber den Völkern der Dritten Welt, aber vor allem um Aussöhnung in Europa.

Weg der Versöhnung in Europa

Als Bundeskanzler schlug Willy Brandt den Weg der Versöhnung in Europa ein, indem er ankündigte, dass wir ein Volk der „guten Nachbarn“ sein werden. Dies geschah nur etwas mehr als zwei Jahrzehnte nach dem Grauen, das der von Deutschland verbrochene Zweite Weltkrieg über unseren Kontinent gebracht hatte.

Unvergessen bleibt der Moment, als Willy Brandt im Jahr 1970 vor dem Mahnmal für die Opfer des Aufstandes im Warschauer Ghetto niederkniete. Hier nahm ein Mann, der im Kampf gegen die Nationalsozialisten seine Heimat verlassen musste, die historische Verantwortung seines Volkes auf seine Schultern. Es war eine große Geste der Versöhnung, aber auch des Patriotismus. Dieser Kniefall war das Symbol für eine neue weitsichtige Politik, die zur Wiedervereinigung Deutschlands und zur Überwindung der europäischen Ost-West-Spaltung führte.

Politik der Koexistenz mit dem Osten

Wer Willy Brandt als Mensch und Politiker verstehen will, der muss auf seine prägenden Jahre in Berlin blicken, wo sein politisches Wirken im Nachkriegsdeutschland beginnt. Die Erfahrungen in der geteilten und umklammerten Stadt sind ein wichtiges Motiv für seine spätere Ostpolitik: Er kämpft um die Freiheit des Westteils von Berlin, vor allem in den dramatischen Tagen des Mauerbaus, ebenso wie für die lebensnotwendige Bindung an die Bundesrepublik und den Erhalt des Vier-Mächte-Status. Aber zugleich will Brandt eine Politik der Koexistenz mit dem Osten – mit so vielen realen Berührungspunkten und menschlichen Kontakten wie möglich.

Ziel dieser Berlin-Politik ist zunächst die „Transformation der anderen Seite“. Und langfristig das de facto Ende der DDR und die Vereinigung beider deutscher Staaten. Das, was hier in Berlin begann, hat Willy Brandt als Außenminister der Großen Koalition 1966 bis 1969 und als Bundeskanzler konsequent fortgesetzt: den Wandel durch Annäherung.

Sie basiert auf der Anerkennung des Status quo in Europa, die zwischen 1970 und 1973 in Verträgen mit der Sowjetunion, Polen, der damaligen Tschechoslowakei und nicht zuletzt der DDR festgeschrieben wurde. Seine schwierige, aber erfolgreiche Arbeit wurde bereits 1971 mit der weltweit bedeutendsten Anerkennung ausgezeichnet, dem Friedensnobelpreis. Seine Politik hat Europa grundlegend verändert.

Brücken zwischen den Generationen gebaut

So wie Willy Brandt Deutschland nach außen neu positionierte, hat er auch im Inneren durch eine klare und mutige Reformpolitik die Gesellschaft und das Land modernisiert. Er hat als Bundeskanzler und als Parteivorsitzender Brücken zwischen den Generationen gebaut und dazu beigetragen, dass sich eine ganze Generation nach 1968 nicht vom Staat abgewendet hat. Sein Leitmotiv blieb dabei der Dreiklang der Werte der deutschen Sozialdemokratie: Freiheit, Solidarität, Gerechtigkeit.

Auch wenn wir die aktuellen Debatten über den Klimaschutz verfolgen, so können wir Willy Brandts Haltung und Politik als eine Richtschnur betrachten. Mit dem Bericht der Nord-Süd-Kommission für die Weltbank hat er die Linien weit vorgezeichnet. Weltweite Probleme wie Klimawandel, Hunger, Epidemien und andere Fluchtursachen in den Armutsregionen dürfen politisch nicht unbeantwortet bleiben. Der Erhalt der natürlichen Lebens­grundlagen muss gleichgewichtig mit der sozialen Frage in das Zentrum der politischen Anstrengungen.

Erhard Eppler war unter Kanzler Brandt Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit – also zuständig für die Entwicklungspolitik. Beide haben gemahnt, dass nur nachhaltige Politik die Voraussetzungen für ein gutes und menschenwürdiges Leben in Frieden, Sicherheit und Wohlstand schaffen kann. Im Sinne von Brandt und Eppler müssen wir heute darauf hinwirken, alle Länder in die globalen Wirtschaftsbeziehungen fair einzubinden. Dies ist eine der zentralen Herausforderungen der Zukunft.

Brandts Kanzlerschaft wirkt weiter

Das politische Vermächtnis von Willy Brandt bedeutet heute noch größere Verpflichtung als je zuvor: für Freiheit, Frieden und Völker­verständigung. Für die Gestaltung von sozialer und ökologischer Demokratie, weit über die heutige Generation hinaus. Diesem Anspruch gerecht zu werden, das ist der Auftrag der heute Handelnden, die politische Verantwortung für unser Land und für Europa übernommen haben. Willy Brandts Politik und seine Visionen können uns dafür weiterhin Richtschnur sein. In diesem Sinne wirkt seine Kanzlerschaft weit über das Jahr 1974, als sie zu Ende ging, hinaus.

Der Text basiert auf einer Rede, die Gerhard Schröder anlässlich des 50. Jahrestages der Wahl Willy Brandts zum Bundeskanzler am 20. Oktober 2019 beim Willy-Brandt-Forum in Unkel gehalten hat.

Autor*in
Gerhard Schröder

war von 1998 bis 2005 Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland.

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