Geschichte

Brandt in Warschau: „Den Augenzeugen verschlug der Kniefall den Atem.“

Als Willy Brandt am 7. Dezember 1970 in Warschau auf die Knie sank, war Adam Krzeminski dabei. „Von den Gesichtern der Augenzeugen konnte man ablesen, dass etwas bahnbrechend Beispielloses passiert war“, erinnert sich der polnische Journalist.
von Adam Krzeminski · 3. Dezember 2020
Kiefall in Warschau: Abgesehen von Begleitpersonen, dem Journalistentross und einigen wirklich Interessierten wurde nur eine Handvoll zufälliger Passanten Zeuge der Geste Willy Brandts.
Kiefall in Warschau: Abgesehen von Begleitpersonen, dem Journalistentross und einigen wirklich Interessierten wurde nur eine Handvoll zufälliger Passanten Zeuge der Geste Willy Brandts.

Willy Brandts Kniefall in Warschau ist zu eine der prägnantesten Ikonen der europäischen Nachkriegsgeschichte geworden. Ein Bundeskanzler, der aktiver Gegner der Nazis gewesen war und von den Rechten im eigenen Lande wegen seiner Emigration als Verräter verunglimpft wurde, kniet vor den Opfern des von Hitler entfachten und von Deutschen getragenen genozidalen Eroberungskrieges nieder.

Der „deutschen Kennedy“ machte Hoffnung

Für mich als damals zwanzigjährigen polnischen Germanisten in Leipzig war die Bundesrepublik der 60er Jahre ein unbekannter Staat: attraktiv wegen seines Wohlstands und bedrohlich wegen seiner beharrlichen Weigerung, die Oder-Neiße-Grenze anzuerkennen. Die Berliner Mauer empfand ich als hässliche Behinderung und Beweis für die Schwäche des sowjetischen Lagers, aber irgendwie auch als ein Pfand.

Meine Leipziger Freunde taten mir leid, wegen der leidvollen Trennungen ihrer Familien, doch spannender jene Westdeutschen, die die Starre der Nachkriegszeit überwinden wollten. Es waren Günter Grass’ Wahlreden „Willy wählen“, die einen jungen Polen auf eine mögliche Wende in der Bundesrepublik und den „deutschen Kennedy“ aus West-Berlin aufmerksam machten. Jung, gutaussehend und kein Ex-Brauner – zurück in Warschau behielt ich Brandt im Auge und drückte ihm die Daumen.

Die Zensur beschlagnahmte die Fotos

Die sozialliberale Koalition in Bonn 1969 wirkte auch an der Weichsel wie eine Befreiung aus dem Nachkriegskorsett. Die Unterzeichnung des Grenzvertrages im Dezember besiegelte dies. Willy Brandts Warschau-Besuch am 7. Dezember 1970 glich keinem Triumphzug. Die Machthaber in Warschau wollten dem Bundeskanzler keinen großen Bahnhof bereiten.

Abgesehen von Begleitpersonen, dem Journalistentross und einigen wirklich Interessierten wurde nur eine Handvoll zufälliger Passanten Zeuge jener Geste, die in Deutschland eine heftige Debatte auslöste, in Polen aber erst nach Jahren nachwirken konnte, denn die Zensur beschlagnahmte die Bilder des knienden Bundeskanzlers. Die Hardliner in der Parteiführung wollten die Bundesrepublik nicht als ein Schreckgespenstverlieren, und die Nationalisten verübelten Brandt, dass er vor dem „falschen“ Denkmal seine Abbitte geleistet hatte.

Den Weg zur Öffnung der Mauer frei gemacht

Den Augenzeugen verschlug der Kniefall erst einmal den Atem, doch von ihren Gesichtern konnte man ablesen, dass etwas bahnbrechend Beispielloses passiert war. Die 70er Jahre prägte dann in den deutsch-polnischen Beziehungen Helmut Schmidt, doch Willy Brandts Geste beeinflusste mit der Zeit die Wahrnehmung der politisch-moralischen Wandlung in Nachkriegsdeutschland.

Heute erinnert in Warschau an Willy Brandts Kniefall eine Gedenktafel unweit des Ghetto-Denkmals. Sie wurde im Jahr 2000 von einem sozialdemokratischen Bundeskanzler – Gerhard Schröder – und einem Ministerpräsidenten von der „Solidarnosc“ – Jerzy Buzek – enthüllt. Für manche Augenzeugen war es ein greifbarer Beleg dafür, dass die Brandtschen Ostverträge, vor allem die Anerkennung der Oder- Neiße-Grenze, auch den Weg zur revolutionären Entwicklung der „Solidarnosc“ und schließlich zur Öffnung der Berliner Mauer frei gemacht haben.

Der Text erschien 2013 im vorwärts-Sonderheft anlässlich des 100. Geburtstags von Willy Brandt.

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Adam Krzeminski

(geb. 1945) arbeitete als Journalist in Warschau für die polnische Wochenzeitschrift „Polityka“.

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