Am Dienstag diskutierten Weggefährten Willy Brandts mit Vertretern der jüngeren Generationen über Brandts politisches Erbe. Die Konferenz in der Friedrich-Ebert-Stiftung wurde zu einer Debatte über Grundwerte der internationalen Sozialdemokratie.

An diesem Mittwoch wäre Willy Brandt 100 Jahre alt geworden. „Er war das Gesicht der Sozialdemokratie weltweit“, sagte Wolfgang Thierse, Vorsitzender des Kuratoriums der „Bundeskanzler Willy Brandt-Stiftung“ am Dienstag in Berlin. Und Kurt Beck, Vorsitzender der Friedrich-Ebert-Stiftung, betonte: „Er hat uns auf ökologische Herausforderungen hingewiesen als das Bewusstsein dafür noch nicht so verankert war wie heute.“ Brandts Streben nach mehr Demokratie werde auch in der heutigen Gesellschaft noch als dauerhafter Auftrag begriffen. Beide Stiftungen veranstalteten am Dienstag die Konferenz „Mehr Gerechtigkeit wagen. Willy Brandts globales Engagement“. 

Zum Auftakt meldete sich der ehemalige spanische Ministerpräsident Felipe Gonzales per Videobotschaft zu Wort. Die beste Ehrung für Willy Brandt sei es, die Herausforderungen der Globalisierung anzugehen, sagte er. Damit bezog sich Gonzales auf Brandts Zeit als Vorsitzender der Sozialistischen Internationale und der Nord-Süd-Kommission. „Der Markt darf den Menschen nicht nur zum Objekt machen“, betonte Gonzales.

Anschließend diskutierten ehemalige Weggefährten Brandts über dessen politisches Vermächtnis. Darunter Ricardo Nunez, einst Präsident der Sozialistischen Partei Chiles (PS). Er erinnerte an die Pinochet-Diktatur, während der seine Partei verboten war. Chile habe die Diktatur überwinden können, weil das Volk dafür gekämpft habe, aber auch dank der internationalen Solidarität, die das Land erfahren habe. „In den 17 Jahren der Pinochet-Diktatur war immer eine Delegation der Sozialistischen Internationale in unserem Land“, sagte Nunez.

„Integration war Brandts große Fähigkeit“

Dennoch habe zunächst eine ideologische Distanz zwischen der Sozialistischen Partei Chiles und Brandt überbrückt werden müssen. Nunez selbst und die PS seien, anders als Brandt, marxistisch-leninistisch geprägt gewesen. Dennoch nahmen beide Kontakt zueinander auf. „Brandts große Fähigkeit war die politische Integration“, kommentierte Egon Bahr, damals ein Freund und enger politischer Vertrauter Brandts. Das färbte offenbar auch auf die chilenischen Sozialisten ab. Die Mehrheit von ihnen orientierte sich unter der Diktatur um und richtete sich sozialdemokratisch aus. Um Pinochets Herrschaft zu überwinden, verbündeten sich die chilenischen Sozialisten schließlich sogar mit den Christdemokraten, „mit denen wir lange verfeindet waren“, wie Nunez betonte.

Doch Brandts politischer Stil, stets pragmatisch nach einem Interessenausgleich zu suchen, stieß am Dienstag auch auf Kritik. Seine Kompromissbereitschaft sei vielleicht etwas zu weit gegangen, merkte der russische Duma-Abgeordnete Ilja Ponomarajow während einer Debatte über Brandts Ostpolitik an. Ponomarajow gehört den russischen Sozialdemokraten an, die sich als klaren Gegensatz zu Präsident Putin verstünden, wie er erklärte. „Die Russen sind nicht für Kompromisse zu haben“, sagte Ponomarajow. In seinem Land verstehe deshalb niemand, warum sich die SPD jetzt mit der CDU zusammenfinde. Dies liege aber auch an den Eliten in Russland, die bei Verhandlungen nicht auf konstruktives Miteinander, sondern nur auf den eigenen Vorteil bedacht seien. Den deutschen Sozialdemokraten warf Ponomarajow vor, durch ihre Verhandlungsbereitschaft mit Putin dessen Herrschaft zu stützen, anstatt sich auf die Seite der Opposition zu schlagen.

Egon Bahr entgegnete, dass man Realitäten anerkennen müsse, „auch wenn sie mir nicht gefallen“. Auch Brandt habe im Kalten Krieg Fortschritte nur durch direkte Verhandlungen mit der Moskauer Führung erreichen können. Wie erfolgreich dieser pragmatische Politikstil sein kann, zeige auch die KSZE-Schlussakte von Helsinki 1975. Mit dieser bekannten sich die sowjetischen Staaten zur Einhaltung der Menschenrechte. Die Dissidenten hätten sich fortan darauf berufen können, so Bahr.

Ein „großer Weltbericht“ zur Armut

Eine weitere Diskussionsrunde widmete sich der Nord-Süd-Kommission, die Brandt viele Jahre leitete. 1980 verfasste diese den Bericht „Das Überleben sichern“ und lenkte damit den Blick der Weltöffentlichkeit auf die Probleme der Dritten Welt. „Mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung litt unter Hunger“, sagte die ehemalige Bundesentwicklungshilfeministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul. Brandt habe auch auf das „krasse Missverhältnis“ hingewiesen zwischen den Geldern, die weltweit für Rüstung ausgegeben würden und dem, was in Entwicklungshilfe investiert worden sei.

Der Direktor des Deutschen Instituts für Entwicklungspolitik Dirk Messner nannte den sogenannten Brandt-Bericht einen „der großen Weltberichte zu Menschheitsfragen der Zukunft“. Er sei jedoch zu Beginn eines neokonservativen Jahrzehnts veröffentlicht worden und deshalb in der Politik nicht auf genügend Resonanz gestoßen. Die benannten Probleme wie Armut, Hunger, daraus entstehende Kriegsgefahren und die ökologischen Herausforderungen seien noch immer aktuell. Arme und reiche Länder müssten, wie Brandt seinerzeit, gemeinsame Interessen herausbilden, um zu einem fairen Ausgleich zu kommen. „Seit zehn bis 15 Jahren tut sich die Politik sehr schwer damit“, sagte Messner.

Zum Abschluss der Veranstaltung stellte sich Hessens SPD-Landeschef Thorsten Schäfer-Gümbel einem Interview zu den programmatischen Perspektiven der Sozialdemokratie. Er kritisierte, dass sich auch in der SPD das Verständnis von Parteipolitik geändert habe. Früher hätten die Sozialdemokraten versucht, aus ihrer festen Haltung eine gesellschaftliche Mehrheit zu machen. Zuletzt hätten sie sich aber oft dem Mainstream angepasst. „Politische Debatten sind schneller, tagesaktueller geworden“, sagte Schäfer-Gümbel. Und riet der SPD, sich wieder mehr an langfristigen Zielen zu orientieren.

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Carl-Friedrich Höck

arbeitet als Redakteur für die DEMO – die sozialdemokratische Fachzeitschrift für Kommunalpolitik.

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