Betriebsverfassungsgesetz: Wie die Mitbestimmung in die Betriebe kam
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Zwischen März und Mai 2022 wählen Arbeitnehmer*innen in den Betrieben ihre Interessenvertretungen neu. Erstmals kommen Neuerungen des am 21. Mai 2021 im Bundestag beschlossenen Betriebsrätemodernisierungsgesetzes zum Zuge. Die überfällige Reform des Betriebsverfassungsgesetzes begrüßt der Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB), aber sie sei gemessen an aktuellen Herausforderungen unzureichend. Wie ein roter Faden ziehen sich sowohl Zustimmung als auch enttäuschte Erwartung durch die Entwicklungsgeschichte der Betriebsverfassung.
13. Januar 1920: Das erste Betriebsrätegesetz
Die Demokratisierung des Arbeitslebens ist ein Grundgedanke, ein dominantes Ziel der Arbeiterbewegung seit gut 150 Jahren. Arbeiterausschüsse und Ideen von der „konstitutionellen Fabrik“ gingen dem 1920 von der verfassunggebenden Nationalversammlung beschlossenen Betriebsrätegesetz voraus. Reichskanzler Gustav Bauer (SPD) hatte im August 1919 einen Regierungsentwurf für ein Betriebsrätegesetz vorgelegt, der in den parlamentarischen Beratungen von den Konservativen und Liberalen stark verwässert wurde.
Vor allem Ansätze einer Wirtschaftsdemokratie wurden abgeschwächt. Bei den Gewerkschaften war das am 13. Januar 1920 beschlossene Gesetz umstritten, die Führung des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbund (ADGB) wertete das Gesetz zwar als Erfolg, bot es doch den Betriebsräten Rechtssicherheit und wurde in der betrieblichen Praxis mit Leben erfüllt. Kritik entzündete sich an der Begrenzung der Mitsprache auf soziale Angelegenheiten und die betonte Verpflichtung auf den Betriebsfrieden. Mit der Machtübernahme durch die Nazis 1933 endete die Mitwirkung der Betriebsräte.
19. Juli 1952: Bundestag beschließt schwaches Gesetz
Im befreiten Westen Deutschlands, im Aachener Kohlerevier, wurden im Dezember 1944 wieder Betriebsräte gewählt. Ein neues Betriebsrätegesetz auf der Basis des Alliierten Kontrollratsgesetzes 22 vom 20. April 1946 ermöglichte Wahlen in allen Besatzungszonen. Zwei Jahre später schufen die neuen Länder in den Besatzungszonen eigene Betriebsrätegesetze, am fortschrittlichsten in Hessen, während in der Sowjetischen Besatzungszone Betriebsräte durch betriebliche Gewerkschaftsleitungen ersetzt wurden. Mit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland 1949 war der Rechtsrahmen für Betriebsräte zu vereinheitlichen.
Zum Jahresende 1950 brachte Bundesarbeitsminister Anton Storch (CDU) einen dürftigen Gesetzentwurf für ein Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) in den Bundestag ein: Die Mitbestimmung der Betriebsräte blieb auf betriebliche Sozialfragen beschränkt und verpflichtete sie auf betriebliches Wohlverhalten. Die parlamentarische Beratung war vom Konflikt über die Montanmitbestimmung überlagert, und gewerkschaftliche Demonstrationen und Warnstreiks gegen den Entwurf blieben wirkungslos. Der Bundestag beschloss am 19. Juli 1952 gegen die Stimmen von SPD und KPD eine schwache Betriebsverfassung. Erneute Demonstrationen dagegen kamen für den DGB nicht in Betracht. Mit Tarifverträgen haben die Gewerkschaften – wo möglich – die Handlungsspielräume für Betriebsräte erweitern können.
1960er Jahre: Hoffnung auf Reform
Eine Konjunktur- und Strukturkrise ab Mitte der 1960er Jahre zeigte rasch negative Folgen für die Arbeitnehmerschaft sowie den Betriebsräten unzureichende Handlungsmöglichkeiten. Im Oktober 1967 legte der DGB Vorschläge für eine deutliche Reform des Betriebsverfassungsgesetzes vor und forderte 1968 die Ausweitung der Mitbestimmung der Arbeitnehmer im Aufsichtsrat. Aber während der Großen Koalition aus CDU/CSU und SPD bis Herbst 1969 waren hierfür Reformen unrealistisch.
Deshalb mahnte der DGB-Vorsitzende Heinz Oskar Vetter die Bundestagskandidaten am 1. September 1969 zu mehr Mitbestimmung der Betriebs- und Personalräte und mehr Kontrolle des Managements durch Arbeitnehmervertreter und erinnerte an die Gesetzentwürfe des DGB: „Entscheidend ist allein, daß Mitbestimmungsregelungen gefunden werden, die die bestehenden Privilegien beseitigen und eine gleichberechtigte Wahrnehmung der Interessen der Arbeitnehmer gegenüber denen der Kapitalgeber gewährleisten.“ Aber innerhalb des DGB gab es zur Reform der Betriebsverfassung auch Dissonanzen: Der DGB selbst und die meisten Industriegewerkschaften hielten am sozialpartnerschaftlichen Konsensprinzip fest, die IG Metall unter Otto Brenner und Eugen Loderer dagegen bemühten sich, den Interessenkonflikt zwischen Kapital und Arbeit klarer zu akzentuieren.
28. Oktober 1970: Willy Brandt fordert mehr Mitbestimmung
Streiks heizten 1969 Politisierungen in den Betrieben an, damit drängte die Arbeiterschaft ihre Gewerkschaften zu mehr Gegenmachtpositionen zur Kapitalseite. Im September 1969 löste eine SPD-FDP-Koalition die bisherige ab. In seiner Regierungserklärung vom 28. Oktober 1970 plädierte Bundeskanzler Willy Brandt (SPD) für weitreichende Mitbestimmung und Mitverantwortung in den verschiedenen Bereichen der Gesellschaft – ohne die Mitbestimmung der Arbeitnehmer in Betrieben und Unternehmen explizit zu nennen.
Hoffnungen auf eine weitreichende Reform des Betriebsverfassungsgesetzes keimte bei den Gewerkschaften auf. In Gesprächen mit dem neuen Arbeitsminister Walter Arendt, zuvor Vorsitzender der IG Bergbau und Energie, drängte der DGB auf einen baldigen Entwurf, spürte aber Skepsis. Ende Juli 1970 mahnte Brandt seine Fraktionskollegen Herbert Wehner und Helmut Schmidt: „In führenden Gewerkschaftskreisen schien der Verdacht aufgekommen zu sein, wir könnten die Modernisierung des Betriebsverfassungsgesetzes aufgrund von Verständigungsschwierigkeiten mit der FDP zurückstellen wollen. Es ist wichtig, daß der Entwurf vor Jahresende auf den Tisch kommt.“
Zur Beschleunigung beschloss der DGB-Bundesausschuss im Dezember 1970 eine öffentlichkeitswirksame Kampagne „Für ein besseres Betriebsverfassungsgesetz“. Aber der Regierungsentwurf vom 28. Januar 1971 enttäuschte die gewerkschaftlichen Hoffnungen auf eine umfassende Reform. Auf der Mängelliste: Zu wenig Mitbestimmung in wirtschaftlichen Angelegenheiten, schwaches Zugangsrecht der Gewerkschaften zu den Betrieben, die „Leitenden Angestellten“ waren ganz aus dem Entwurf gefallen ebenso der Wunsch nach einem Arbeitsdirektor.
1971: Arbeitgeber mobilisierten eine Heerschar von Juristen
Gegen den Regierungsentwurf gingen die Wirtschaftsverbände auf die Barrikaden, mobilisierten eine Heerschar von Rechtswissenschaftlern, die vor allem bemüht waren, verfassungsrechtliche Argumente gegen eine neue Betriebsverfassung ins Feld zu führen. Im Fokus standen Regelungen zum Sozialplan wie auch Einschränkungen der unternehmerischen Freiheit durch Mitsprache des Betriebsrats bei Personalrichtlinien. Den von den Wirtschaftsverbänden verpflichteten Rechtswissenschaftlern ging die Mitbestimmungsregelungen zu weit und seien mit dem Sozialstaatsprinzip nicht mehr gedeckt.
Die Beratungen zum neuen Betriebsverfassungsgesetz im Bundestag 1971 spiegeln die parlamentarischen Einflussgrößen im Machtgefüge der Bundesrepublik Deutschland wider. Für Minister Walter Arendt war anlässlich der ersten Beratung im Bundestag am 11. Februar 1971 klar, „daß nicht alle Vorschläge (…) für ein modernes Betriebsverfassungsgesetz letztgültige Lösungen darstellen. Dennoch sehe ich mich berechtigt zu sagen, daß die vielen Änderungen gegenüber dem geltenden Recht mehr Demokratie in die Betriebe bringen, das Arbeitsleben humaner machen, die Mitwirkungskraft der Arbeitnehmer und Betriebsräte stärken und den Schutz jedes einzelnen verbessern werden.“
Der Entwurf der Unionsfraktion versuchte die betriebsverfassungsrechtliche und unternehmensverfassungsrechtliche Mitbestimmung zu bündeln, ohne substanziell die Arbeitnehmerrechte zu stärken. Im Grundverständnis der Union kam dem Betriebsrat auch eine Mittlerfunktion zu. Und: „Er ist auch der Filter, der den Arbeitgeber vor Querulantentum bewahrt. Er ist aber auch die Vermittlerstelle, die den Arbeitnehmern unangenehme, aber betriebsnotwendige Entscheidungen transparent und verständlich machen soll“, argumentierte der Unionsabgeordnete Thomas Ruf. Innerhalb der Union gab es zum Regierungsentwurf durchaus unterschiedliche Einschätzungen. Die Mittelstandsvereinigung sprach von einem kollektivistisch-sozialistischen Regelungsversuch, während die Sozialausschüsse der Union eher wohlwollend zu den Neuregelungen standen.
19. Januar 1972: neues Betriebsverfassungsgesetz
Summarisch machte am 10. November 1971, dem Tag der Schlussabstimmung im Bundestag der SPD-Sozialexperte, Ernst Schellenberg, deutlich: „Erstmals erhalten die Arbeitnehmer durch das Gesetz ein Mitbestimmungsrecht bei der Gestaltung ihres Arbeitsplatzes. Erstmals stellt ein Gesetz sicher, daß die Arbeitnehmer bei Rationalisierung, Automation und anderen Betriebsänderungen vor den sozialen Folgen des Strukturwandels der industriellen Gesellschaft geschützt sind. (…) Dieses neue Betriebsverfassungsgesetz verbessert die Stellung des Arbeitnehmers in der Gesellschaft von heute.“ Wegen der grundsätzlichen Bedeutung des Gesetzes beantragte Schellenberg namentliche Abstimmung. Mit den Stimmen der SPD-FDP-Koalition sowie 27 Stimmen aus der CDU/CSU-Fraktion wurde am 10. November 1971 der Regierungsentwurf mit einigen Änderungen angenommen und passierte, nachdem auch unionsgeführte Bundesländer zugestimmt hatten, den Bundesrat und trat am 19. Januar 1972 in Kraft.
Zu mehr Gegenmacht ist es nicht gekommen. Der Bremer Arbeitsrechtler Wolfgang Däubler befand seinerzeit: „Das Betriebsverfassungsgesetz lässt die unternehmerische Autonomie, die Kompetenz des Arbeitgebers zur Vornahme aller das Unternehmen betreffende Maßnahmen unberührt.“ Gewerkschaftlicherseits fiel das Votum eher ambivalent aus. Bedauern über die halbherzige Reform zur Mitbestimmung, aber zufrieden über den Instrumentenkasten des neuen Gesetzes. Man wolle das Gesetz mit Leben erfüllen, hieß abermals die Devise.
12. Dezember 2021: Betriebsrätemodernisierungsgesetz
Tatsächlich hat das neue Betriebsverfassungsgesetz die Handlungsspielräume gegenüber dem alten Gesetzes qualitativ verbessert. Die Gestaltung von Arbeitsabläufen und Arbeitsplätzen wurden mitbestimmungspflichtig, mit Einigungsstellenverfahren konnten nunmehr Betriebsänderungen stärker beeinflusst werden, Kündigungsschutz und Freistellungen – auch für Schulungen – hat das Gesetz deutlich verbessert. Die Jugendvertretung bekam eine rechtliche Aufwertung. Mit dem neuen Handlungsrahmen waren die Betriebsräte nunmehr in die Lage versetzt, Veränderungen in der Arbeitswelt, etwa durch neue Techniken und Managementmethoden, zu Gunsten der Beschäftigten zu beeinflussen.
Mit Ergänzungen ist das Gesetz in den danach veränderten Verhältnissen punktuell angepasst worden. Zuletzt im Mai 2021 mit dem Betriebsrätemodernisierungsgesetz. Auch hier viel die gewerkschaftliche Bewertung ambivalent aus: „Dank des Betriebsrätemodernisierungsgesetzes wird es Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern leichter fallen, Betriebsräte zu bilden. (…) Auch das neue Mitbestimmungsrecht bei der Ausgestaltung von mobiler Arbeit und die erleichterte Hinzuziehung von externen Sachverständigen sind positiv zu bewerten. Das Betriebsrätemodernisierungsgesetz wird den mitbestimmungspolitischen Stillstand der letzten Jahrzehnte nicht überwinden können. Dennoch ist es ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung“, urteilt der DGB-Vorsitzende Reiner Hoffmann.
Dieser Beitrag erschien zunächst im Online-Debattenmagazin des DGB unter gegenblende.dgb.de
war langjähriger Redakteur von Gewerkschaftspublikationen (Deutsche Angestellten Gewerkschaft und Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft) und ist jetzt als freier Autor tätig.