Geschichte

August Ellinger: Der Mann, der das soziale Bauen erfand

Die Wohnungsnot nach dem Ersten Weltkrieg zu bekämpfen war das Ziel von August Ellinger. Dafür setzte er eine gewerkschaftlich-genossenschaftliche Bewegung in Gang, die beispielgebend wurde. Als die Nazis an die Macht kamen, nahm er sich das Leben.
von Steffen Adam · 16. Juni 2023
Vorbild des Wohnens im 20. Jahrhundert: die Hufeisensiedlung in Britz in Berlin-Neukölln:
Vorbild des Wohnens im 20. Jahrhundert: die Hufeisensiedlung in Britz in Berlin-Neukölln:

Am 18. Juni 1933 nahm sich August Ellinger in seinem Berliner Haus, in der nach Plänen von Bruno Taut errichteten Siedlung Eichkamp, das Leben. Der Gewerkschafter, führend in der Arbeitervertretung im Baugewerbe und genossenschaftlichen Organisationen im Wohnungsbau starb – angesichts drohender Verhaftung, Verhören, Folterungen durch deutsche Behörden, die unlängst selbst der nationalsozialistischen Diktatur anheimgefallen waren.

Bezahlbarer Wohnraum und sichere Arbeitsplätze als Ziele

Ellinger sah sich bedroht als bekannter Arbeiterführer und Mitglied der SPD. Sein Fokus lag auf dem Bauwesen, auf der Schaffung sozial-bezahlbaren Wohnraums für die breite Masse der Bevölkerung einerseits und der Schaffung sicherer, nachhaltiger Arbeitsplätze am Bau. Dabei könnte man annehmen, dass August Ellinger im Grunde einer unverfänglichen Betätigung nachging, äußerst nützlich für Volkswirtschaft und Gemeinwohl.

Ein Heer arbeitsloser Bauarbeiter und demobilisierter Soldaten stand nach dem Ersten Weltkrieg einem Wohnungsfehlbestand im Deutschen Reich von rund 700.000 Wohnungen gegenüber. Was könnte, im Sinne des Erfurter Programms der neu firmierten Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, den Gewerkschaften und allen progressiven Kräfte, der Gesellschaft natürlicher sein, als beide Missstände gegeneinander aufzuwiegen, indem man sie miteinander gemeinnützig und genossenschaftlich verband?

Die Bauhüttenbewegung: Arbeiter als „Besitzer ihrer Produktionsmittel“

Das jedenfalls war die Idee Ellingers:

Mit dem Geld der Gewerkschaften, insbesondere des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes, wurden ab 1918 reichsweit in echter Selbsthilfe von Handwerkern, Facharbeitern und kleinen Unternehmern freie Baufirmen gegründet. Diese sollten wenig mehr als die Arbeitslöhne und die durchlaufenden Kosten für Baumaterial und Verwaltung erwirtschaften. August Ellinger versprach sich besondere Leistungsfähigkeit dieser Baufirmen, die sich Bauhütten nannten, weil die Arbeiter hier selbst Herr ihrer Geschicke waren und „Besitzer ihrer Produktionsmittel“. Damit fand Ellinger in Martin Wagner, Baustadtrat von Berlin-Schöneberg, einen kongenialen Mitstreiter und Freund. Ellinger und Wagner waren fortan in allen regionalen, nationalen und internationalen Gremien für die neue, soziale Bauwirtschaft federführend tätig.

Für diese soziale Bauwirtschaft, dass erkannten Ellinger und Wagner, war es wichtig, sich von der privaten, gewinnorientierten Baustoffindustrie unabhängig zu machen. Die Bauhüttenbewegung erwarb bis 1922 Wälder, Sägewerke, Ziegeleien, Betonwerke, Kunststeinfabriken etc. – und das nicht einen Augenblick zu früh. Denn 1923 begann die Hyperinflation, der auch einige Bauhütten zum Opfer fielen. Dank der Führung von August Ellinger und Martin Wagner überstand die Bauhüttenbewegung die Krise auf zwei gesunden Beinen: den sozialen Baubetrieben und den sozialen Baustofferzeugern.

Die freien Baugesellschaften

Ein drittes Standbein lag geradezu auf der Hand: Die Sozialisierung der Auftraggeberseite und ein Wohnungsbau für die Bevölkerung durch die Organisationen, die für diese Bevölkerung wirken und eintreten. Zu diesem Zweck gründen August Ellinger und Martin Wagner am 13. März 1924 in Berlin die Deutsche Wohnungsfürsorge-Aktiengesellschaft DEWOG. Deren operatives Geschäft, Auftragsvergabe an soziale Bauhütten, des Eigenbaus und der Verwaltung der entstandenen Immobilien sollte bei gemeinnützigen Baugesellschaften der einzelnen Länder oder großen Städten liegen.

Berlin stand als Reichshauptstadt natürlich in besonderem Fokus und zog Vertreter*innen progressiver Ideen, Künstler*innen oder kreative Gruppen aller Couleur an: die Brüder Taut, Walter Gropius, Ludwig Mies van der Rohe, Hugo Häring oder Otto-Rudolf Salvisberg aus der Schweiz, um nur einige zu nennen. Vertreter des Bauhauses (aus Weimar, Dessau und Berlin) fühlten sich ebenfalls von der jüngsten Metropole angezogen, wo alles möglich schien.

Eine Idee, die weltweit diskutiert wurde

Am 14. April 1924 gründeten August Ellinger und Martin Wagner im Bundeshaus des Allgemeinen Gewerkschaftsbundes die Gemeinnützige Heimstätten AG, GEHAG. Gründungsaktionäre wurden der Allgemeine Deutsche Gewerkschaftsbund ADGB unter Carl Legien (heute DGB), der Allgemeine freie Angestelltenbund AfA-Bund unter Siegfried Aufhäuser (heute bei Verdi), acht Einzelgewerkschaften, darunter die Baugewerkschaft (heute IG Bau-Agrar-Umwelt), die Baugenossenschaft Ideal, die Genossenschaft Freie Scholle Tegel (initiiert von Gustav Lilienthal), die Arbeiterbaugenossenschaft Paradies-Bohnsdorf, der Beamtenwohnverein Neukölln, die AOK-Neukölln mit Emil Wutzky, die Konsumgenossenschaft Berlin und Umgebung, die Volksfürsorge (Rente) und die Bank der Arbeiter, Angestellten und Beamten. Die GEHAG finanzierte alle drei Standbeine der Bewegung: Baustoffe, Bauen, Beauftragen.

Was August Ellinger und Martin Wagner mit der GEHAG seit ihrer Gründung unternahmen, betraf nicht nur die Region Berlin-Brandenburg. Die Idee und Umsetzung eines gewerkschaftlich sozialen Bauens wurden reichsweit, ja europa- und weltweit diskutiert, kommentiert und übernommen. Der GEHAG-Wohnungsgrundriss ist praktisch das Vorbild des Wohnens der Welt im 20. Jahrhundert geworden. Dies war ein Beweggrund, sechs Siedlungen der Berliner Moderne zum Weltkulturerbe zu erheben. Zwei dieser Welterbe-Siedlungen, die Hufeisensiedlung in Britz und die Wohnstadt Carl-Legien, wurden von der GEHAG Ellingers und Wagners erbaut und betrieben. Eine weitere GEHAG-Siedlung, die Waldsiedlung Zehlendorf „Onkel Toms Hütte“ soll noch in diesem Jahr zum bestehenden Welterbe nachnominiert werden.

Die Nazis trieben ihn in den Selbstmord

Martin Wagner gelang nach der Machtübernahme der Nazis die Flucht in die Freiheit. August Ellinger hatte dazu keine Gelegenheit. Alle deutschen Gewerkschaften waren am 2. Mai 1933 zerschlagen, ihre Strukturen zerstört, ihr Vermögen beschlagnahmt worden. Prominente Gewerkschafter wurden verhaftet, so man ihrer habhaft wurde. Die Vorstellung, er müsse seine Tätigkeit vor Nazi-Schergen im KZ rechtfertigen, dürften in August Ellinger den Entschluss zum Freitod befördert haben.

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Autor*in
Steffen Adam

ist Architekt und Bauhistoriker. Er ist Mitglied des Vorstandes des Architekten- und Ingenieurvereins zu Berlin-Brandenburg, gegenwärtig Thema 100 Jahre GEHAG.

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