Geschichte

Antonie „Toni“ Pfülf: Kämpferin für Kinder, Hassobjekt der Nazis

Sie war beharrlich und scheute keine Konfrontation – auch nicht mit den eigenen Genoss*innen. Für die Nazis wurde Antonie „Toni“ Pfülf zum Hassobjekt. Vor 125 Jahren wurde die SPD-Politikerin geboren.
von Lothar Pollähne · 14. Dezember 2022
Scheute keinen Konflikt: Antonie „Toni“ Pfülf
Scheute keinen Konflikt: Antonie „Toni“ Pfülf

Am Morgen des 18. Mai 1933 besteigt die sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete Antonie Pfülf im Anhalter Bahnhof in Berlin den Frühzug nach München. Ein enttäuschender Tag liegt hinter ihr, denn es ist ihr nicht gelungen, die gesamte SPD-Reichstagsfraktion von der Teilnahme an der Sitzung des Reichstages abzubringen, in der Adolf Hitler seine verlogen gemässigte Friedensresolution beschließen lassen will. Antonie Pfülf ist besonders bestürzt über das Verhalten ihres Freundes, des langjährigen Reichstagspräsidenten Paul Löbe, und ihres bayrischen Genossen Wilhelm Hoegner. Beide kanzeln die widerständige Genossin vor der Fraktion in Altherrenmanier ab.

Nachdem Antonie Pfülf den Zug bestiegen hat, teilt ihr der Schaffner, ein Gewerkschafter und Reichsbannermann, ein Abteil zu, damit sie ihre Ruhe haben kann. Er kann nicht ahnen, dass Antonie Pfülf dort ihre letzte Ruhe sucht. Während der Fahrt nach München nimmt sie Schlaftabletten. Kurz vor München will der Schaffner Antonie Pfülf auf die bevorstehende Ankunft hinweisen, nimmt ihren Zustand wahr und rettet so ihr Leben: einstweilen.

Dem „Dienst der großen Sache“ gewidmet

Seit der Machtübertragung an die Nazis hegt Antonie Pfülf den Gedanken, freiwillig aus dem Leben zu scheiden. Enttäuscht schreibt sie: „Dass viereinhalb Millionen freie Gewerkschafter und die christlichen Organisationen, dass ihr alle zusammen und die große Partei nicht versucht haben, auf jede Gefahr hin Widerstand zu leisten, das kann ich nicht ertragen.“ Mit ihren Appellen zum Kampf gegen das aufziehende braune Deutschland hat sich Antonie Pfülf ausgelaugt.

Wenige Wochen nach der Machtübertragung an die Nazis formuliert Antonie Pfülf am 17. Februar ihre eigene Todesanzeige, die mit dem trotzigen, hoffnungsvollen Satz endet: „Sie ging mit dem sicheren Wissen von dem Sieg der großen Sache des Proletariats, der sie dienen durfte.“ Gut dreißig Jahre lang hat sich Antonie Pfülf dem „Dienst der großen Sache“ gewidmet, als eine der wenigen studierten Frauen.

Geboren wird sie am 14. Dezember 1877 in der damals deutschen Stadt Metz als Tochter eines Oberst. Die Familienverhältnisse sind schwierig, die Mutter führt das Regiment und hat den Wunsch, dass Antonie heirate. Die jedoch verlässt nach dem Besuch einer höheren Mädchenschule die Familie und lässt sich in München zur Lehrerin ausbilden. Das ist für eine junge Frau am Ende des 19. Jahrhunderts ein mutiger Schritt. Als die Familie erfährt, dass sich Antonie der SPD angeschlossen hat, kommt es zum endgültigen Bruch.

Mitreißende Rednerin und Agitatorin

Als Lehrerin in Oberbayern lernt Antonie Pfülf hautnah das Elend des Landproletariats kennen. Unter den unwürdigen Wohnverhältnissen, an denen die meisten der ihr anvertrauten Kinder leiden, leidet auch Antonie Pfülf. Sie erkrankt an Tuberkulose und bleibt ihr Leben lang gesundheitlich labil. 1910 wird sie wegen ihrer Erkrankung in den einstweiligen Ruhestand versetzt. Von 1916 bis 1918 arbeitet Antonie Pfülf in München als Armen- und Waisenrätin. In der Münchner Lokalpolitik hat sie sich als mitreißende Rednerin und Agitatorin für die Sache der Kinder einen Namen gemacht. Sie ist beharrlich und scheut keine Konfrontation — auch nicht mit den eigenen Genossen.

Nach der November-Revolution und der Ausrufung des Freistaates Bayern wird Antonie Pfülf als eine von wenigen Frauen Mitglied im Münchner Arbeiterrat. Im Januar 1919 setzt sie sich als Frau im Wahlkreis Oberbayer/Schwaben durch und wird Abgeordnete in der verfassunggebenden Weimarer Nationalversammlung. Bereits dort brilliert sie als vehemente Kämpferin für die Bildungschancen von Arbeiterkindern. Gelegentlich wird ihr vor allem von männlicher Seite „überzogene Vehemenz und Leidenschaft“ vorgeworfen. Das jedoch spornt sie eher an, als dass es sie ärgert.

Bei der ersten Reichstagswahl im Juni 1920 erringt Antonie Pfülf das Mandat im Wahlkreis Oberbayern. Insgesamt wird sie fünf Mal in den Reichstag gewählt, auch in der schon unter den Nazis eingeschränkten Wahl vom März 1933. In allen Reichstagen glänzt Antonie Pfülf als ausgewiesene Bildungspolitikerin, kämpft für die Abschaffung des Schulgeldes, die finanzielle Unterstützung von Arbeiterkindern und für gleiche Bildungschancen, die mehr sein sollen, als ein verbrieftes Recht.

Gegen die Feinde der Demokratie

Neben ihrer Tätigkeit als Bildungspolitikerin und dem Kampf für gleiche Chancen von Mädchen und Jungen engagiert sich Antonie Pfülf für die „Frauenfragen“. Das stößt nicht nur bei Konservativen auf wenig Gegenliebe, sondern auch bei konservativen Genossen, die sich mit Problemen, wie der Reformierung des Ehescheidungsrechts oder der Gleichstellung von Beamtinnen und Beamten, nicht beschäftigen mögen. Dass Frauen auch in der Politik nach gleichen Rechten streben, geht vielen Parteigranden zu weit. Aber Antonie Pfülf bleibt auch auf diesem Feld beharrlich. Auf dem SPD-Parteitag in Heidelberg kann sie 1925 als Mitglied der Programmkommission erste, zaghafte Ansätze einer Frauenquote durchsetzen.

Als die Nazis Ende der1920er Jahre erste nennenswerte Wahlerfolge verzeichnen können, nimmt Antonie Pfülf den Kampf gegen die Feinde der Demokratie auf, die sich, für sie absehbar, bis in die Reihen der bürgerlich-konservativen Parteien hinein breit machen. An diesem Kampf, den sie vor allem innerhalb der eigenen Partei führt, zerbricht Antonie Pfülf schließlich. Für die Nazis wird sie zum Hassobjekt und kann sich ihres Lebens nicht mehr sicher sein. Den Glauben vieler, zu vieler Genoss*innen, das der „Hitler-Spuk“ bald vorbei sein werde, teilt Antonie Pfülf nicht. Sie ist davon überzeugt, dass die SPD ohnehin bald verboten werde.

Innerlich mit dem Leben abgeschlossen

Angesichts der persönlichen Bedrohung könnte Antonie Pfülf ins benachbarte Ausland gehen, aber Weglaufen ist nicht ihre Sache. Auch hier ist sie stur und hört nicht auf den Rat Wohlgesonnener. Das hält sie nicht davon ab, anderen Leidens-Genoss*innen den Weg in die Emigration zu ebnen.

Nachdem ihr erster Selbsttötungsversuch am 18. Mai 1933 gescheitert ist, bleibt Antonie Pfülf überwiegend in München. Sie erhält Besuch von Paul Löbe und ihrer engsten Freundin aus der SPD-Fraktion, Louise Schröder, die so tut, als habe sie von Antonies Selbsttötungsversuch nichts gehört. Alle Versuche, Antonie Pfülfs Gemütszustand aufzuhellen, schlagen fehl, denn sie hat innerlich schon lange mit einem Leben abgeschlossen, das ihr alle Freiheiten nimmt. Am 8. Juni 1933 nimmt sie in ihrer Wohnung abermals Schlaftabletten und hat „Erfolg“. Ihr Freitod ist der ultimative Akt der Selbstbestimmung. Am 22. Juni 1933 wird die Sozialdemokratische Partei Deutschlands von den Nazis verboten, genauso, wie es Antonie Pfülf vorausgesagt hatte.

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Lothar Pollähne

ist Journalist und stellvertretender Bezirksbürgermeister in Hannover.

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