Geschichte

Annemarie Renger: Mit Charme und ohne Blatt vor dem Mund

Sie war die erste Bundestagspräsidentin und schnell Deutschlands beliebteste Politikerin. Dennoch nahm sie nie ein Blatt vor den Mund. Obwohl Frauenpolitik zunächst nicht ihre Sache war, politisierte sie eine ganze Generation.
von Renate Faerber-Husemann · 4. Oktober 2019
Willy Brandt das Regieren nicht immer leicht gemacht: Am Montag wäre Annemarie Renger 100 Jahre alt geworden.
Willy Brandt das Regieren nicht immer leicht gemacht: Am Montag wäre Annemarie Renger 100 Jahre alt geworden.

Zum ersten Mal in der deutschen Parlamentsgeschichte wurde im Dezember 1972 eine Frau Bundestagspräsidentin. Annemarie Renger hatte sich für dieses protokollarisch zweithöchste Staatsamt selbst ins Spiel gebracht und das galt damals als unfein. An das entscheidende Gespräch mit dem damaligen SPD-Fraktionschef Herbert Wehner erinnerte sie sich später so: „Hör mal, meine Freunde würden mich unterstützen und ich darf Dir sagen, dass ich kandidieren werde. Und dann hat er gebrummt und gesagt, na, dann müssen wir das wohl machen.“

„Das Parlament ist kein Mädchenpensionat“

Nach einem Jahr im Amt war sie in Umfragen die beliebteste deutsche Politikerin. Nie nahm sie ein Blatt vor den Mund und ihre Ruppigkeit war nicht nur in der SPD-Fraktion gefürchtet. „Streit gehört zum Parlamentarismus“ war ihre Antwort auf Kritik. Mit dem Satz „Das Parlament ist kein Mädchenpensionat“, konnte sie Kollegen abfertigen, die sich bei ihr beschwerten. Doch das war nur die eine Seite der gepflegten, stets elegant gekleideten, gutaussehenden Frau. Sie hatte Charme. Mit ihrer Natürlichkeit und ihrer verlässlichen Klarheit konnte sie die unterschiedlichsten Menschen für sich einnehmen.

Annemarie Renger wuchs in einer sozialdemokratischen Familie in Berlin auf. Schon mit zehn Jahren wollte sie Parteisekretärin der SPD werden, erzählte sie gerne. Zwei Männer prägten ihr Leben: ihr Vater, der sie förderte und Kurt Schumacher, der erste Parteivorsitzende der SPD nach dem Krieg, dessen Privatsekretärin sie wurde. Sie lernte ihn im Sommer 1945 kennen. Er war gezeichnet von einer zehnjährigen Leidensgeschichte durch die Konzentrationslager der Nazis. Auf Fotos der Nachkriegszeit kann man sehen, wie der hagere Mann mit einem Arm und einem Bein sich bei öffentlichen Auftritten auf seine junge Sekretärin stützt.

Wenig Verständnis für die 68er

Für Annemarie Renger war das Kriegsende auch das Ende einer bleiernen Zeit. 1933 musste sie das Gymnasium verlassen, weil der Vater arbeitslos wurde und von der kargen Unterstützung das Schulgeld nicht aufbringen konnte. Ein Stipendium wurde der Tochter des bekannten Sozialdemokraten verweigert. Im Krieg verlor sie ihren Mann und zwei Brüder. Im Frühjahr 1945 schlug sie sich vom umkämpften Berlin in die Lüneburger Heide durch. In einer von polnischen Zwangsarbeitern verlassenen Baracke fand sie mit Schwester und Sohn eine Unterkunft. Die Arbeit als Küchenhilfe in einem Reservelazarett bewahrte vor dem Verhungern.

Man muss diesen Hintergrund sehen, um zu verstehen, dass Annemarie Renger später im Parlament und als Präsidentin des Bundestages nur wenig Verständnis hatte für die 1968 aufbegehrende ökologisch und pazifistisch geprägte Jugend und die Sozialdemokraten, die sich auf ihre Seite stellten. Sie war Mitbegründerin der legendären rechten Kanalarbeiterriege der SPD-Fraktion und die machte – vorsichtig formuliert – Bundeskanzler Willy Brandt das Regieren nicht leichter.

Auch Frauenpolitik war zunächst nicht ihre Sache. Da hat sie sich später allerdings korrigiert und eine Kampagne „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ aktiv unterstützt. Genauso war es mit der politischen Frauenquote: „Ich fand, die müssten das aus eigener Kraft schaffen. Aber es ist doch gelungen, viele Frauen zu politisieren und vor allen Dingen, sie auch in die Gremien zu bringen wie in den Deutschen Bundestag. Es lag mir nicht, diese Quote zu machen, aber es ist doch erfolgreich gewesen.“

Auch in der eigenen Partei Feinde gemacht

Annemarie Renger hat kein leichtes Leben gehabt. Sie hat als junge Sozialdemokratin die Nazizeit und den Krieg in Berlin überlebt. Sie hat zwei Ehemänner und ihren einzigen Sohn begraben, das mag ihre Schroffheit erklären, mit der sie sich auch in der eigenen Partei Feinde gemacht hat.

Doch das war nur die eine Seite: Sie liebte das Leben, genoss es noch im hohen Alter, am Steuer ihres schnellen Autos zu sitzen, neben ihr auf dem Beifahrersitz oft  einer ihrer verwöhnten Boxer- Hunde – heute nur schwer vorstellbar. Sie war eine warmherzige, großzügige Gastgeberin, in ihrem Haus bei Bonn trafen die unterschiedlichsten Menschen zusammen. Sie wirkte glücklich, wenn dort Meinungen aufeinanderprallten und alle sich wohlfühlten. Wenn man sie nach ihrem Lebensmotto fragte, zitierte sie Kurt Schumacher – wen sonst: „Freiheit ist der höchste Wert.“

Autor*in
Renate Faerber-Husemann

(† 2023) war freie Journalistin in Bonn und Erhard-Eppler-Biografin.

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