Geschichte

Anna Zammert: Wegbereiterin gewerkschaftlicher Frauenarbeit

Sie kam aus armen Verhältnissen und war die erste Frau im Vorstand einer deutschen Einzelgewerkschaft. In der Weimarer Republik wurde Anna Zammert zur Wegbereiterin gewerkschaftlicher Frauenarbeit. Vor 40 Jahren ist sie gestorben.
von Lothar Pollähne · 13. Dezember 2022
Kämpferin für Frauenrechte: Anna Zammert (Mitte)
Kämpferin für Frauenrechte: Anna Zammert (Mitte)

Die Arbeitsbedingungen sind erbarmungswürdig: Die Arbeitstage dauern bis zu 14 Stunden. Gearbeitet wird für gewöhnlich an sieben Tagen in der Woche. Die Arbeitsräume sind eng, stickig und staubig. Der Lohn reicht häufig nur dann zum Leben, wenn die ganze Familie mitarbeitet. Das ist die Lebensrealität, in die Anna Rabe am 12. Juli 1898 in der sächsischen Industriestadt Delitzsch hineingeboren wird. Der Vater ist selbständiger Zigarrenmacher, und Anna begreift sehr früh, was es heißt, für viel Arbeit wenig Geld zu bekommen.

Das Elend hautnah

Die Zigarrenmacher*innen müssen den Rohtabak überteuert einkaufen und die fertigen Zigarren mit kleiner Marge an die Tabakhändler verkaufen, damit die Herren des aufstrebenden Bürgertums für gutes Geld zum Rauchgenuss kommen können. Anna Rabe besucht die Volksschule, kümmert sich um ihre jüngeren Geschwister und arbeitet in ihren zwei letzten Schuljahren täglich ein paar Stunden für vier Mark im Monat als Putzfrau. Obwohl die Familie Rabe der Sozialdemokratie nahesteht, bleibt die junge Anna zunächst unberührt von umstürzlerischen Ideen. Sie geht „in Stellung“ bei einem ehemaligen Lehrer, merkt aber innerlich schnell, dass sie bei einem Arbeitstag von 16 Stunden nicht mehr als eine Haussklavin ist und der Arbeitslohn von sechs Mark im Monat nicht mehr als ein Almosen.

Mit Beginn des Ersten Weltkrieges werden Frauen als Arbeitskräfte zu Stützen der Kriegswirtschaft. So unpolitisch Anna Rabe auch gewesen sein mag, eine Stellung in einer Munitionsfabrik lehnt sie ab. Stattdessen arbeitet sie im Braunkohlentagebau und im Straßenbau und einmal mehr lernt sie das Elend hautnah kennen. Die Krüppel kommen zurück, die Zahl der Kriegswitwen nimmt zu und große Teile der Bevölkerung hungern. Gegen Ende des Krieges geht Anna Rabe noch einmal „in Stellung“ nach Berlin.

Engagiert in der USPD

Am Vorabend der November-Revolution reist sie zurück nach Delitzsch und sucht sich Arbeit in einem Bitterfelder Chemiewerk. Dort beginnt ihr politisches Leben. Sie tritt dem Fabrikarbeiterverband bei und wird 1920 in den Arbeiterrat gewählt. Betriebsrätin darf sie nicht werden, da sie – wie gesetzlich vorgeschrieben —  noch nicht 24 Jahre alt ist. Politisch engagiert sich Anna Rabe, dem Beispiel etlicher Kolleg*innen folgend, in der USPD, organisiert die Frauenarbeit und beteiligt sich am Aufbau der Arbeiterwohlfahrt.

In der Gewerkschaft übernimmt sie das Amt der Unterkassiererin und wird in den Vorstand der Zahlstelle Bitterfeld gewählt. Diese Tätigkeit ermöglicht es ihr, Kontakte zu vielen Kolleg*innen zu knüpfen. Im Betrieb erwirbt sich Anna Rabe Anerkennung auch auf Seiten der Arbeitgeber, die ihr eine leitende Stellung anbieten. Das lehnt sie aus politischer Überzeugung ab. Sie ist Arbeiterin und will es bleiben. 

Studium an der „Akademie der Arbeit“

1922 tritt Anna Rabe zur SPD über. Mit dem Beginn der Wirtschaftskrise verliert sie im Mai 1923 ihren Arbeitsplatz und geht danach mit zwei Freundinnen aus der Arbeiterjugend auf Wanderschaft. Zurück in Delitzsch arbeitet sie zunächst wieder ehrenamtlich in der Zahlstelle der Gewerkschaft und findet dann über andere kurzzeitige Arbeitsstellen zurück zu ihren Wurzeln. 1924 erhält Anna Rabe eine Stelle als Zigarrenarbeiterin, schließt sich aber nicht dem  traditionsreichen Verband der Zigarrenarbeiter an, sondern bleibt dem Facharbeiterverband treu.

Der ermöglicht ihr 1925 ein Studium an der „Akademie der Arbeit“ in Frankfurt am Main, für das sie von ihrem Betrieb freigestellt wird. Nach Abschluss des Studiums wird Anna Rabe Angestellte bei der „Gauleitung“ des Fabrikarbeiterverbandes in Frankfurt am Main und „tingelt“ vorwiegend durch kleinere Betriebe, um Frauen über ihre Rechte vor allem im Schwangeren- und Mutterschutz aufzuklären.

Einzug in den Reichstag

Als sich der Fabrikarbeiterverband 1927 entschließt, ein Frauensekretariat für den Gesamtverband einzurichten, wird Anna Rabe, die sich nach der Eheschließung mit dem Buchdrucker Paul Zammert selbstbewusst Anna Rabe-Zammert nennt, mit der Betreuung dieses Postens betraut. Sie ist damit die erste Frau im Vorstand einer deutschen Einzelgewerkschaft. Unter dem Motto „Frauenarbeit von Frauen für Frauen“ entwirft sie Kampagnen zur Organisation bislang unorganisierter Arbeiterinnen und versucht auf allen Ebenen der Gewerkschaft, Frauenkommissionen einzurichten und Frauenkonferenzen durchzuführen. Nicht überall stößt Anna Zammert mit diesem Engagement auf Zustimmung im immer noch weitgehend männlich geprägten Gewerkschaftsapparat.

Sie nutzt alle Ebenen der Agitation, lehrt an der Volkshochschule, hält Reden landauf, landab und schreibt Artikel für die „Frauenspalte“ des Verbandsorgans „Der Proletarier“. Auch in der SPD bleibt sie aktiv. Im September 1930 zieht Anna Zammert für den Wahlkreis Südhannover-Braunschweig in den Reichstag ein, dessen Mitglied sie als „Hinterbänklerin“ bis zu der letzten Sitzung mit sozialdemokratischer Beteiligung im Juni 1933 bleibt. Teilnehmen kann sie an dieser Sitzung nicht mehr, da sie kurz nach der Erstürmung des Gewerkschaftshauses in Hannover am 1. April 1933 von den Nazis verhaftet worden ist.

Nach sechsmonatiger Haft wird Anna Zammert entlassen, sieht sich aber ständigen Repressalien ausgesetzt. Gemeinsam mit ihrem Mann flieht sie 1935 über Dänemark nach Norwegen. Als die Nazis Norwegen überfallen, wird Anna Zammert kurzzeitig inhaftiert und flieht nach der Haftentlassung mit ihrem Mann nach Schweden. In Stockholm schließt sie sich der Landesgruppe deutscher Gewerkschafter in Schweden an und wird als Vertreterin der Frauen in die Landesleitung gewählt.

Rückkehr nach Schweden

Nach der Zerschlagung Nazi-Deutschlands versucht Anna Zammert, in der Nachfolgeorganisation des Fabrikarbeiterverbandes, der I.G Chemie-Papier-Keramik, wieder eine Anstellung als Frauensekretärin zu erlagen, aber sie scheitert mehrfach, vielleicht, weil sie für manche Vorstände als Frau den alten Gewerkschaftsgeist verkörpert, obwohl sie noch nicht einmal 50 Jahre alt ist. Zeitweise arbeitet sie ehrenamtlich für die Arbeiterwohlfahrt. 1953 übernimmt Anna Zammert für kurze Zeit die Stelle der Bezirksfrauensekretärin bei der I.G. Nahrung-Genuss-Gaststätten in Hamburg.

Die Aufgaben entsprechen jedoch nicht ihren Vorstellungen von gewerkschaftlicher Arbeit. Enttäuscht geht Anna Zammert nach Schweden zurück, wo sie bis zu ihrem Ruhestand beim schwedischen Facharbeiterverband arbeitet. Als ihr Mann 1975 stirbt, zieht Anna Zammert zu ihrer Tochter Gerda nach Delitzsch, die dort bei ihrer Großmutter aufgewachsen ist. Die Wegbereiterin gewerkschaftlicher Frauenarbeit stirbt am 13. Dezember 1982 weitgehend vergessen in Delitzsch.

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Lothar Pollähne

ist Journalist und stellvertretender Bezirksbürgermeister in Hannover.

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