Geschichte

Als sich die Stimmung änderte: Reise durch die DDR im Oktober 1989

Anfang Oktober 1989 besuchte Dietmar Nietan Freunde und Verwandte in der DDR. Noch vor den großen Demonstrationen in Leipzig und Berlin spürte der heutige SPD-Schatzmeister, dass sich die Stimmung verändert hatte. Doch er konnte sich nicht vorstellen, welche historischen Ereignisse bevorstanden.
von Dietmar Nietan · 1. Oktober 2019
Im Herbst 1989 überschlugen sich in der DDR die Ereignisse. Am 7. Oktober gründete sich die SDP. Dietmar Nietan spürte die veränderte Stimmung bereits während einer einwöchigen Reise.
Im Herbst 1989 überschlugen sich in der DDR die Ereignisse. Am 7. Oktober gründete sich die SDP. Dietmar Nietan spürte die veränderte Stimmung bereits während einer einwöchigen Reise.

Düren, 1. Oktober 1989. Die SPD erzielt bei den nordrhein-westfälischen Kommunalwahlen in meiner eher konservativen Heimatstadt stolze 54 Prozent. Wir feiern bis spät in die Nacht. Doch am nächsten Morgen muss ich früh aufstehen. Denn ich fahre – wie jedes Jahr – zu Familie und Freunden in die DDR. Meine halbe Familie lebt dort, und unser Kontakt ist sehr eng. Und erstmals begleitet mich meine heutige Frau Dagmar.

Auch in der DDR hat es im Mai Kommunalwahlen gegeben. Doch diesmal haben mehr Menschen, als je zuvor die Bewerber der Einheitsliste akkurat durchgestrichen. So viele, dass sich die SED gezwungen sieht, das Ergebnis zu fälschen. Diese Lüge wird der Prolog zum Sieg der Freiheit über diejenigen sein, die den Sozialismus systematisch verraten haben, indem sie aus ihm ein System von Herrschern und Beherrschten gemacht haben.

Oktober '89: Es lag was in der Luft

Von Kindesbeinen an war es für mich vertraute Normalität, regelmäßig in die DDR zu reisen. Als ich dann mit 16 Jahren in die SPD eintrat und bei den Jusos aktiv wurde, fing ich an, die in der DDR herrschenden Verhältnissen zu analysieren. Dort musste niemand hungern. Keiner hatte Angst um seine Rente. Bis auf die herrschende Nomenklatura war niemand besonders reich oder privilegiert. Überall gab es einen Jugendklub. Von so vielen Jugendeinrichtungen konnten wir im Westen nur träumen. Vor allen Dingen erlebte ich hier einen nachbarschaftlichen Zusammenhalt unter den Menschen, wie ich ihn so im Westen nicht kannte.

Und doch war es so, dass mit jedem Besuch nicht nur meine Wertschätzung für die praktische Solidarität der Menschen in der DDR wuchs, sondern auch meine Abneigung gegenüber den herrschenden Genossen. Der Verrat, den sie an ihrer Bevölkerung und dem Sozialismus begingen, lag für mich auf der Hand. Und so hatten wir bei unserer Reise 1989 keine Vorstellung davon, welche historischen Ereignissen bevorstünden, aber wir spürten: Es lag was in der Luft.

Eine Woche durch die DDR

Eisenach, 2. Oktober 1989. Dagmar und ich sitzen alleine in einem der 6er-Abteile der Bahn, deren Schiebetüren nie richtig funktionieren. Drei ältere Damen und ein junger Mann haben mittlerweile die vier vormals leeren Plätze eingenommen. „Der Krenz ist doch der Schlimmste von allen!“ schimpft der junge Mann. Ein Provokateur der ­Stasi denke ich, doch im Handumdrehen stimmen die drei älteren Damen in den verbalen Rundumschlag gegen das Politbüro mit ein. „Da gucken se junger Mann. Das geht hier den Bach runter!“ ruft mir eine Abteilgenossin zu. Ich stimme ihr schweigend zu.

Gera, 3. Oktober 1989. „Sie sind wohl aus dem Westen!“ schallt es mir entgegen, als ich in der Volksbuchhandlung an der Kasse stehe und die beiden Rosa-­Luxemburg-Bände bezahle, die mir in meiner Sammlung sozialistischer Literatur noch gefehlt haben. „Ja, warum?“, frage ich überrascht. „Na den Scheiß ­kooft hier keiner mehr!“ Die Angst ist weg, denke ich und freue mich diebisch.

Wenn die Herrschenden Angst vor dem Volk haben

Ost-Berlin, 5. Oktober 1989. Als ­Dagmar, mein Kumpel Stefan aus Gera, seine Freundin Petra und ich in Ost-­Berlin ankommen, erleben wir eine für die Geburtstagsparty herausgeputzte Hauptstadt. Doch die Seitenstraßen sind voller Fahrzeuge mit Soldaten der NVA. So ist das halt, wenn die Herrschenden Angst vor dem eigenen Volk haben.

Kölleda, 8. Oktober 1989. Wir sind mittlerweile bei meinem Onkel ­Jürgen in Thüringen angekommen, als spät am Abend völlig aufgelöst mein Kumpel Stefan aus Ost-Berlin anruft. In der Hans-Beimler-Straße knüppelt die Staatsmacht das Proletariat von der Straße, obwohl dieses ja eigentlich in der DDR herrschen sollte…

Düren, 9 Oktober 1989. Als Dagmar und ich am Abend nach einer Woche in der DDR wieder zu Hause ankommen, versetzen in Leipzig Zehntausende mutiger Menschen mit ihrer friedlichen Demonstration der übermächtig erscheinenden Staatsmacht den möglicherweise entscheidenden Knockout.

Die Mutbürger aus dem Osten

Später erfahre ich von der Gründung der SDP am 7. Oktober. Die SDP trat von Anfang an für die parlamentarische Demokratie ein. So wie die SPD 70 Jahre zuvor in der Weimarer Republik. Genau das unterscheidet uns von den Kommunisten – damals und heute. Diese eine Woche, die ich im Oktober 1989 mit so vielen großartigen Menschen in der DDR verbringen durfte, hat mich politisch geprägt. Ich werde sie nicht vergessen.

Heute weiß ich: Die Mutbürger aus dem Osten hätten uns im Westen ein Vorbild sein müssen. Ihren Ideen für ein „besseres“ Deutschland hätte man auch im Westen mehr Raum geben müssen. Und beim Ausverkauf des „DDR-Inventars“ wäre es gut gewesen, den ehemaligen DDR-Bürgern, die es ja er­wirtschaftet hatten, mehr Mitsprache und Miteigentumsmöglichkeiten ein­zuräumen.

Für mich waren die Menschen in der DDR ein Stück meiner Heimat. Umso mehr schmerzt mich, dass es für ihre Art, das Leben in der DDR menschlich zu gestalten, oft so wenig Anerkennung im Westen gibt.

Autor*in
Dietmar Nietan
Dietmar Nietan

ist seit 2014 Schatzmeister der SPD und seit 2022 Koordinator der Bundesregierung für die deutsch-polnische zwischengesellschaftliche und grenznahe Zusammenarbeit.

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