Geschichte

Als die Mauer fiel

Im Internationalen Pressezentrum in der Mohrenstraße 38 in Ostberlin drängen sich am 9. November 1989 die Journalisten und Kamerateams. Seit 18 Uhr berichtet der Sekretär des Zentralkomitees der SED für Informationswesen, Günter Schabowski, langatmig über die Sitzung des ZK am Nachmittag desselben Tages. Dann kam die entscheidende Frage, die Millionen DDR-Bürgern die Freiheit brachte.
von Thomas Horsmann · 30. Oktober 2014
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Spannung ist nicht mehr zu verspüren im Internationalen Pressezentrum, als um 18.53 Uhr der Chefkorrespondent der italienischen Nachrichtenagentur ANSA, Riccardo Ehrman, nach dem Reisegesetzentwurf fragt, der wenige Tage zuvor veröffentlicht worden war und heftige Kritik ausgelöst hatte. Günter Schabowski beginnt mit einer weit ausholenden Antwort und kommt schließlich um 18.57 Uhr zu einem Beschluss des Ministerrats, von dem er glaubt, dass er längst veröffentlicht ist.

Den entscheidenden Absatz liest er vor: „Privatreisen nach dem Ausland können ohne Vorliegen von Voraussetzungen – Reiseanlässe und Verwandtschaftsverhältnisse – beantragt werden. Die Genehmigungen werden kurzfristig erteilt. Die zuständigen Abteilungen Pass- und Meldewesen der VPKÄ – der Volkspolizeikreisämter – in der DDR sind angewiesen, Visa zur ständigen Ausreise unverzüglich zu erteilen, ohne dass dabei noch geltende Voraussetzungen für eine ständige Ausreise vorliegen müssen.“  Auf Nachfragen fügt Schabowski hinzu, dass ständige Ausreisen über alle Grenzübergangsstellen der DDR zur BRD bzw. zu West-Berlin erfolgen können. Außerdem erklärt er, dass diese Regelung nach seiner Kenntnis „sofort, unverzüglich“ gilt!   

Schabowskis Irrtum

Mit dieser Regelung wollte die DDR-Führung den Strom von Ausreisen aus der DDR über Ungarn und die CSSR in den Griff bekommen. Allein über die CSSR waren in den ersten Novembertagen 50.000 DDR-Bürger in die Bundesrepublik ausgereist. Der Entwurf des neuen Reisegesetzes war wegen seiner diffusen, schwer nachprüfbaren Regeln heftig kritisiert worden. Auch hatte die CSSR diplomatischen Druck auf Ostberlin ausgeübt, den Massenexodus über ihr Territorium zu stoppen. So hatte der Ministerrat beschlossen, den kritisierten Abschnitt zu ändern und sofort in Kraft zu setzen – „sofort“ hätte jedoch erst am 10. November um 4 Uhr morgens sein sollen. So wäre noch genügend Zeit geblieben, die Grenztruppen, Grenzposten und die Volkspolizei zu informieren. Doch darüber war Schabowski nicht in Kenntnis gesetzt worden.    

Feiern bis tief in die Nacht

So verbreitete sich die Nachricht vom Fall der Mauer über Fernsehen, Radio und die Nachrichtenagenturen in Windeseile. Tausende von Menschen machten sich in Berlin spontan auf den Weg zur Grenze. Doch durch den Irrtum Schabowskis waren die Grenzposten auf den Ansturm nicht vorbereitet. Um 20.30 Uhr standen bereits 15 Jugendliche am Grenzübergang Sonnenallee und verlangten die Ausreise. Dabei verwiesen sie auf die Nachrichtensendungen aus Ost- und Westdeutschland, die die Äußerungen Schabowskis übertragen hatten. Zunächst blieben die Grenzer hart, doch bald stand eine größere Menschenmenge am Grenzposten. Auch am Grenzübergang Bornholmer Straße sammelte sich eine größere Menge Ausreisewilliger. Die Grenzbeamten an beiden Übergängen sprachen sich ab und gaben schließlich ohne ausdrücklichen Befehl nach. Ab 21.40 Uhr ließen sie zunächst alle DDR-Bürger mit Personalausweis ausreisen. Die anderen Grenzübergänge folgten diesem Beispiel.

Um 22 Uhr trafen die ersten DDR-Bürger in Westberlin ein. Um Mitternacht strömten Zehntausende über die geöffneten Grenzen, um sich im Westen umzusehen. Trabi-Schlangen wurden von jubelnden Massen eskortiert. Ost- und Westberliner lagen sich in den Armen. Die 28 Jahre lang so schwer bewachte und gefürchtete Mauer ließ sich plötzlich mühelos überwinden. Die Menschen konnten ihr Glück kaum fassen und feierten am Brandenburger Tor und an vielen anderen Stellen der Mauer bis weit in die Nacht.

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Thomas Horsmann

ist freier Journalist und Redakteur.

 

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