Geschichte

Als der „Vorwärts“ die Katastrophe des Ersten Weltkriegs vorhersagte

Mahnend und hellsichtig zeigte sich die Redaktion des „Vorwärts“ zu Beginn des Ersten Weltkriegs. Klar benannte sie Österreich-Ungarn als Aggressor und setzte auf England als Vermittler. Von einer „Hurra“-Stimmung im Volk gab es keine Spur.
von Kai Doering · 27. Juli 2016
vorwärts-Titelseite vom 28. Juli 1914
vorwärts-Titelseite vom 28. Juli 1914

Im Sommer 1914 herrscht eine unheimliche Stimmung in Europa. Am 28. Juni sind der österreichisch-ungarische Thronfolger, Erzherzog Franz Ferdinand, und seine Frau Sophie Chotek bei einem Besuch in Sarajewo erschossen worden. Seither erhöht der Wiener Hof den Druck auf Serbien.

Druck von Österreich-Ungarn auf Serbien

Am 23. Juli stellt Österreich-Ungarn dem Balkanstaat ein Ultimatum. Innerhalb von 48 Stunden habe Serbien alle Bestrebungen, die auf die Abtrennung vom österreich-ungarischen Territorium abzielten, zu verurteilen und in Zukunft mit äußerster Strenge gegen diese vorzugehen. Jede antiösterreichische Propaganda müsse fortan unterdrückt, Eventuell Beteiligte am Attentat auf den Thronfolger müssten aus dem Staatsdienst entfernt werden.

Vor allem aber habe Serbien „einzuwilligen, daß in Serbien Organe der k.u.k. Regierung bei der Unterdrückung der gegen die territoriale Integrität der Monarchie gerichteten subversiven Bewegung mitwirken (...) eine gerichtliche Untersuchung gegen jene Teilnehmer des Komplotts vom 28. Juni einzuleiten, die sich auf serbischem Territorium befinden; von der k. und k. Regierung hierzu delegierte Organe werden an den bezüglichen Erhebungen teilnehmen“.

Vorwärts: Zeit für die „wuchtigsten Volksproteste“

Der britische Außenminister Edward Grey sprach später vom „übelsten Schriftstück, das ihm zeitlebens in die Hände geraten“ sei. Und auch für den Fall, dass Serbien sich auf die Forderungen eingelassen hätte, hatte Österreich-Ungarn vorgebaut und bereits vor Ablauf der Frist eine Antwort formuliert, in der deutlich wurde, dass das Reich die Inhalte des Ultimatums als nicht erfüllt ansah. Am 28. Juli 1914 erklärte Österreich-Ungarn Serbien den Krieg.

Der „Vorwärts“ erscheint an diesem Tag – noch vor der offiziellen Kriegserklärung – mit der fragenden Schlagzeile „Krieg oder Frieden?“ und fordert in der Unterzeile „Das Volk hat das Wort!“ Es sei „äußerste Zeit zu den schärfsten diplomatischen Vorstellungen und den wuchtigsten Volksprotesten“ fordert die Redaktion im Leitartikel auf der ersten Seite – in der festen Annahme, der Krieg sei noch abzuwenden.

Hetze der bürgerlichen Presse

Auch den Aggressor haben die Redakteure ausgemacht: „Nicht der Zarismus ist in diesem Augenblick die schlimmste Kriegsgefahr, sondern das übelberatene Österreich.“ Hoffnungen setzt der „Vorwärts“ dagegen in England, das „die Initiative zur Erhaltung des Friedens, zur Dämpfung des verderbendrohenden Konflikts ergriffen“ habe.

Doch als Warner steht der „Vorwärts“ am 28. Juli bereits ziemlich allein da, was die Redaktion ebenfalls anmerkt. Die „ganze bürgerliche Presse“ sei dazu übergegangen, zu hetzen und aufzuwiegeln, „statt zu warnen und zu zügeln“. Daher sei es die „doppelte Pflicht des Proletariats, in so schwerer Schicksalsstunde wachsam auf dem Posten zu sein“. Diese Haltung sollen die Arbeiter bei einer Friedenskundgebung in Berlin  unter Beweis stellen.

Das Volk will den Krieg nicht

Einen Tag später, am 29. Juli, ist die Stimmung im „Vorwärts“ gedrückter. Unter der Überschrift „Die Kriegserklärung gegen Vernunft und Volk“ bezeichnet die Redaktion, die Kriegserklärung Österreich-Ungarns als einen „Faustschlag ins Gesicht aller politischen Vernunft“ und als „eine neue Verhöhnung der friedliebenden Mehrheit der Nationen“.

Am Vortag hatten Zehntausende in Berlin gegen einen Krieg demonstriert – von der oft betonten „Hurra“-Stimmung keine Spur. Von „imposanten Straßenkundgebungen“ schreibt der „Vorwärts“ und davon, dass „nicht das militärisch-knappe ‚völkische’ Hurra“ erklungen sei, „sondern das volltönige proletarische Hoch, das dem Völkerfrieden dargebracht wurde“. Es sei „also nicht wahr, dass die großen Massen dieser Länder sich in kriegerischer Stimmung befinden“, stellt der „Vorwärts“ klar.

An anderer Stelle zeigen sich die Redakteure zudem erschreckend weitsichtig: Beteiligten sich weitere Länder am Konflikt zwischen Österreich-Ungarn und Serbien, drohe „die Kriegsflamme nach den anderen Länder hinüberzuschlagen, ganz Europa in Brand zu setzen, unsägliche Leiden über das Menschengeschlecht zu bringen, alles zu vernichten, was in Jahrzehnten mühsamer Kulturarbeit errichtet worden ist“. Ziemlich genau so sollte es kommen.

Wie die Redaktion des „Vorwärts“ im Laufe des Ersten Weltkriegs mit der SPD-Führung aneinander geriet, lesen Sie hier.

Autor*in
Kai Doering
Kai Doering

ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.

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