Geschichte

ADAV und SDAP: Warum es erst zwei sozialdemokratische Parteien gab

Erst der ADAV, ein paar Jahre später die SDAP: Im 19. Jahrhundert gründeten sich unabhängig voneinander zwei sozialdemokratische Parteien, auf die die SPD zurückgeht. Trennungslinie war vor allem die nationale Frage Deutschlands.
von Peter Brandt · 23. Mai 2023
Mann mit politischen wie wissenschaftlichen Ambitionen: ADAV-Gründungsvorsitzender Ferdinand Lassalle
Mann mit politischen wie wissenschaftlichen Ambitionen: ADAV-Gründungsvorsitzender Ferdinand Lassalle

Die SPD begeht den 23. Mai, da sich 1863 der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein (ADAV), die erste parteiförmige sozialistische Organisation in Deutschland, mit Sitz in Leipzig konstituierte, als ihren Gründungstag. Bereits in der Revolution von 1848/49 hatten sich die vielen neu entstandenen demokratischen Arbeitervereine mit politischen und sozialen Forderungen überlokal und überregional zusammengeschlossen, hauptsächlich in der Allgemeinen Deutschen Arbeiterverbrüderung. Noch davor, während der 1830er Jahre, waren im Exil, wo der politische Bewegungsspielraum teilweise größer war als in den deutschen Staaten, radikale Handwerkerverbünde gebildet; aus einem von ihnen, dem Bund der Gerechten, war unter maßgeblicher Beteiligung der jungen Intellektuellen Karl Marx und Friedrich Engels 1847 der Bund der Kommunisten hervorgegangen. Diese frühen Ansätze wurden sämtlich Opfer der repressiven Reaktionsjahre ab 1849/50. Auch wenn die Beteiligten in den 1860er Jahren nicht selten erneut aktiv wurden, war die organisatorische Kontinuität Anfang der 1850er Jahre erst einmal abgerissen.

Der ADAV in einem Spannungsverhältnis

Während sich das deutschsprachige Mitteleuropa 1863 schon in der zweiten Hälfte des industriellen Durchbruchs befand, lebte und arbeitete von der großen Masse der abhängig Beschäftigten samt den Kleinstselbstständigen noch die deutliche Mehrheit in der Landwirtschaft; und unter den Übrigen stellten die eigentlichen Industriearbeiter erst eine Minderheit, während Handwerksgesellen, Tagelöhner und Heimarbeiter zahlenmäßig weiterhin dominierten. Das Durchschnittsalter aller dieser Gruppen lag damals sehr niedrig, teilweise unter 30. Handwerksgesellen, namentlich im Druckgewerbe, spielten in der Arbeiterbewegung noch Jahrzehnte lang eine größere Rolle, als es ihrem schwindenden Anteil an der Gesamtheit der Lohnabhängigen entsprach.

Der erste Präsident des ADAV war der dem deutsch-jüdischen Bildungsbürgertum entstammende Ferdinand Lassalle (*1825), ein Mann mit politischen wie wissenschaftlichen Ambitionen, den der Leipziger Arbeiterverein im Hinblick auf mehrere einschlägige Vorträge und Publikationen an die Spitze gerufen hatte; er starb bereits im August 1864 in einem Duell. Als nach den Jahren der Unterdrückung 1890 das Sozialistengesetz fiel, demonstrierten die sozialdemokratischen Arbeiter mit Porträts von Marx und Lassalle als den verstorbenen Gründervätern.

Die zentralistische und von Kritikern als diktatorisch bezeichnete Organisationsstruktur des ADAV hatte, mehr als mit entsprechenden Vorstellungen Lassalles, mit der Vereinsgesetzgebung der deutschen Staaten, insbesondere Preußens, zu tun, die parteipolitische Ortsverbände nicht zuließ. Diese Handlungsbedingung, die sich erst in den späten 1860er Jahren zu ändern begann, stand in einem Spannungsverhältnis zu den lokal- und versammlungsdemokratischen Traditionen der um 1860 neu entstehenden multifunktionalen Arbeitervereine.

Eine zweite sozialdemokratische Arbeiterpartei

Diese befanden sich vielfach noch unter dem Einfluss von Exponenten des linksliberalen Bürgertums. Auch deren Zusammenschluss auf gesamtnationaler Ebene zum Vereinstag Deutscher Arbeitervereine (VDAV) wurde durch die Lassallesche Gründung forciert. In einem mehrjährigen Verselbstständigungsprozess emanzipierte sich die Mehrzahl der dem VDAV angehörenden Vereine von den bürgerlichen Mentoren und den Leitideen der Eigenverantwortung und Selbsthilfe. 1869 trat – neben den 1865, 1866 und 1867 entstehenden gewerkschaftlichen Berufsverbänden der Zigarrenarbeiter, Buchdrucker und Schneider – unter der geistigen Führung des Marx und Engels im Exil verbundenen 1848er-Revolutionärs Wilhelm Liebknecht und des Drechslermeisters August Bebel, des späteren langjährigen Parteiführers, eine zweite sozialdemokratische Arbeiterpartei ins Leben, die 1875 mit dem ADAV und einer Lassalle-orthodoxen Abspaltung zur Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands fusionierte, 1890 umbenannt in Sozialdemokratische Partei Deutschlands.

Die Trennungslinie zwischen den beiden noch kleinen Parteien (ADAV bis 19.000, SDAP bis zu 9.200 Mitglieder) war mehr als alles andere durch die nationale Frage Deutschlands markiert. Beide Richtungen strebten eine demokratische gesamtdeutsche Republik unter Einschluss der deutschsprachigen Teile Österreichs an; während aber die Lassaller in der vom preußischen Ministerpräsidenten Otto von Bismarck betriebenen und dann von den Nationalliberalen unterstützten, kriegerisch verwirklichten „kleindeutschen“ Lösung (über den Norddeutschen Bund von 1867) einen großen Schritt in die ricntige Richtung sahen, lehnten die „Eisenacher“ (nach dem Ort des Gründungskongresses) sogar noch die Reichsgründung von 1871 ab.

Fundamentalopposition gegen die Herrschaftsverhältnisse

Es dauerte etliche Jahre, bis sie den relativen Fortschritt dieses Akts anerkannten und das Deutsche Reich trotz Fundamentalopposition gegen die Herrschaftsverhältnisse als Nationalstaat annahmen, wobei die Einführung des allgemeinen, gleichen Männerwahlrechts für den Reichstag eine wichtige Rolle spielte. Die Lassalleaner ihrerseits wurden von den repressiven Maßnahmen des Bismarckreichs und seiner Einzelstaaten ebenso betroffen wie die Eisenacher, und so relativierten sich rasch die noch vorhandenen programmatischen Unterschiede.

Wie Marx, Engels, Liebknecht und andere hatte sich Lassalle während der Revolution von 1848/49 auf dem im engeren Sinn demokratischen Flügel engagiert und sah mit dem Auslaufen der Reaktionsperiode 1858/59 wieder die Chance, politisch-publizistisch zu intervenieren. Das vermeintliche Versagen der Liberalen im preußischen Verfassungskonflikt von 1862 bis 1866, die vor einer außerparlamentarischen Konfrontation zurückschreckten, bestärkte ihn in seinen antikapitalistischen Überzeugungen und der jeder selbstständigen politischen Arbeiterbewegung zugrunde liegenden Erkenntnis, dass sich die bewussten Elemente der – sehr weit gefassten – Arbeiterklasse als eigenständige Partei konstituieren müssten.

Wohl eher um der in den lokalen Vereinen verbreiteten Vorstellung durch Staatskredite geförderter Produktionsgenossenschaften als Alternative zum Privatkapitalismus gerecht zu werden, machte er diese Forderung prominent und verband sie mit der nach dem allgemeinen, gleichen und direkten Stimmrecht anstelle des in Preußen geltenden Dreiklassenwahlrechts. Lassalles Idee eines „ehernen Lohngesetzes“, das den Arbeitslohn stets auf dem bestehenden niedrigen Niveau halte, und gewerkschaftliche Aktivitäten weitgehend für wirkungslos erklärte, wurde vom ADAV in der Praxis später relativiert und schließlich de facto aufgegeben. „Revolution“ bedeutete für Lassalle nicht bewaffneter Aufstand, sondern dass „ein ganz neues Prinzip an die Stelle des bestehenden Zustands gesetzt wird.“

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Autor*in
Peter Brandt

ist emeritierter Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Fernuniversität Hagen und Mitglied des SPD-Geschichtsforums. Er ist der älteste Sohn von Rut und Willy Brandt.

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