Geschichte

Ada Lessing: Bildung als Schlüssel zur Emanzipation

Von 1919 bis 1933 leitet die Sozialdemokratin Ada Lessing die Volkshochschule Hannover. Die Frau des Philosophen Theodor Lessing geht ins Exil. Nach 1945 wird sie nicht zurückgerufen in ihr Amt und gerät in Vergessenheit. Völlig zu Unrecht.
von Lothar Pollähne · 16. Februar 2023
Ein Bild aus glücklichen Zeiten: Ada Lessing und ihr Mann Theodor im Jahr 1926 in Hannover.
Ein Bild aus glücklichen Zeiten: Ada Lessing und ihr Mann Theodor im Jahr 1926 in Hannover.

Anfang Mai 1946 reist Wilhelm Sander, der Vorsitzende der „Vereinigung deutscher Sozialdemokraten in Großbritannien“, nach Hannover. Mit Erlaubnis der britischen Besatzungsbehörden darf er als Gast am ersten Nachkriegsparteitag der SPD teilnehmen. Im Gepäck hat Sander den Brief einer Genossin, in dem er gebeten wird: „Versuchen Sie meine alte Volkshochschule zu sehen und sagen Sie den Leitern, sie sollen mich zurückrufen, wenn ich helfen kann.“ Sander übergibt den Brief an Fritz Heine vom „Büro Schumacher“, der ihn an den Leiter der Volkshochschule Hannover weiterleitet; sie darf seit Januar 1946 wieder arbeiten.

Die Briefschreiberin ist nicht irgendwer. Sie heißt Ada Lessing und war gemeinsam mit ihrem Mann Theodor Gründerin der Volkshochschule, die sie von 1919 bis zur Machtübertragung an die Nazis 1933 leitete. Ada Lessing wird nicht zurückgerufen. Die neue Leitung der Volkshochschule und damit die Stadt Hannover verhalten sich so, als wollten sie den Namen Lessing aus dem städtischen Gedächtnis löschen.

Eine Frau versucht auszubrechen

Ada Lessing ist ein Kind der Leinemetropole. Geboren wird sie am 16. Februar 1883 als Adele Minna Abbenthern. Ihr Vater Bodo ist Angestellter bei der städtischen Lagerbier-Brauerei. 1890 zieht die Familie Abbenthern an den südlichen Stadtrand von Hannover, wo der Vater die Waldwirtschaft „Bischofshol“ gepachtet hat. Ada verbringt glückliche Jahre in der Waldidylle. Dennoch bricht sie 1902 aus und heiratet den Gutspächter Ernst Grote. Die Ehe hält zwei Jahre lang. Dann bricht Ada erneut aus und kehrt in ihr Elternhaus zurück. Über den kurzen voraufgegangenen Lebensabschnitt wird sie nie wieder reden.

1907 stirbt die Mutter, und Ada möchte wieder ausbrechen. England ist ihr Traumziel, aber mangelnde Sprachkenntnisse und eine fehlende Berufsausbildung vereiteln den England-Plan. Stattdessen geht Ada nach Berlin, lernt Maschineschreiben, Stenografie und Englisch und wird bei der Zeitschrift „Schönheit“ als Bürokraft angestellt.

Für Bildung, gegen den Krieg

Um die Jahreswende 1908/09 lernt sie Theodor Lessing in Hannover kennen, der sich als Sozialist und Philosoph bereits einiges Renommee erworben hat. Beide verbindet die Idee, dass Bildung der Schlüssel zur Emanzipation aller Menschen sei. Nachdem sie eine Zeit lang unehelich zusammengelebt haben, heiraten Ada und Theodor Lessing 1912. Im Jahr darauf kommt ihre Tochter Ruth zur Welt.

Als Deutschland mit Beginn des 1. Weltkriegs in vaterländische Trance verfällt, stellen sich Ada und Theodor Lessing ins pazifistische Abseits. Vehement kritisiert Ada Lessing in Vorträgen und Zeitungsartikeln den so genannten Burgfrieden und die Zustimmung der SPD zur Kriegspolitik des Kaiserreiches. Dennoch nähert sich Ada Lessing der SPD an und unterstützt deren Kampagne zur Durchsetzung des Frauenwahlrechts. Nach dessen Einführung schließt sich Ada Lessing im April 1920 der SPD an, um ihre bislang theoretischen Forderungen praktisch werden zu lassen.

Ada Lessing macht Karriere

1919 wird in Hannover eine Kommission zur Vorbereitung von Kursen zur Volksbildung eingerichtet. „Es wird der Beschluss gefasst, die im Sinne der Volksbildungsbestrebungen für Erwerbslose … eingerichteten Lehrgänge des Demobilisierungsausschusses auszubauen und der Volkshochschule anzugliedern“, erinnert sich Ada Lessing zehn Jahre später. „Gewerkschaften und Berufsverbände übernehmen die Verbreitung der Volkshochschulidee. Die Bildungseinrichtungen des Freigewerkschaftlichen Bildungskartells werden ebenfalls mit der Volkshochschule verbunden.“

Theodor und Ada Lessing sind federführend. Ihre Idee: die Einrichtung einer Volkshochschule nach dem bei Wilhelm Liebknecht entlehnten Motto „Wissen ist Macht! Wissen macht frei! Bildung ist Schönheit!“ Ende 1919 nimmt die Schule in Linden, das noch nicht zu Hannover gehört, die Unterrichtstätigkeit auf. Leiterin der „Freien Volkshochschule“, wie diese im darauffolgenden Jahr heißen wird, ist Ada Lessing. 1923 wird sie offiziell zur Geschäftsführerin der Einrichtung ernannt.

Verdienste um die Volkshochschul-Bewegung

Es gelingt Ada Lessing dank ihrer politischen Vernetzung politisch prägende Dozenten zu verpflichten; darunter ist der spätere preußische und niedersächsische Kultusminister Adolf Grimme. Trotz Hyper-Inflation und Weltwirtschaftskrise gelingt es Ada Lessing, die Volkshochschule Hannover am Leben zu erhalten. Das ist wohl ihr größter Verdienst für die Volkshochschul-Bewegung.

1932 kandidiert Ada Lessing zum ersten Mal für den Reichstag, allerdings auf dem aussichtslosen Listenplatz 7. Dennoch nimmt sie die Kandidatur ernst und ergreift sogar das Wort für den ungeliebten Reichstagspräsidenten Hindenburg, den die SPD zur Verhinderung Adolf Hitlers unterstützt. Wenige Jahre zuvor hatte Theodor Lessing Hindenburg als einen „Zero“ bezeichnet, hinter dem ein Nero stünde, nämlich Adolf Hitler. Nach einer Wahlkampfrede schreibt Ada Lessing vorahnend an ihren Mann: „Es ist alles ganz still hier, nur in den besseren Restaurants grüßen sich alle mit dem Faschistengruß und alle besser angezogenen Herren tragen Hakenkreuz.“

1933: Flucht ins Exil

Für die Lessings wird das Leben in Deutschland zur Qual. Am 1. März 1933 flieht Theodor Lessing über Dresden in die benachbarte Tschechoslowakei nach Marienbad. 14 Tage später zwingen die Nazis Ada Lessing, „freiwillig“ die Geschäftsführung der Volkshochschule niederzulegen. Trotzig schreibt sie ihrem Mann Ende April: „Beide waren wir unsrer Vaterstadt treuer als irgendeiner derjenigen, die nach Konjunktur den Wohnsitz wechseln. Das wird immer und immer wieder gesagt, das nagle ich fest. 14 Jahre Volkshochschularbeit, 25 Jahre Wirken von Dir, das lasse ich nicht aus der Geschichte der Stadt Hannover löschen, das wird eingeschrieben mit Günther Wagners unauslöschbaren Farbenstiften.“

Auch Ada Lessing flieht nach Marienbad. Dort wird Theodor Lessing am 30. August 1933 von gedungenen Nazi-Schergen ermordet.  Ada bleibt dennoch in Marienbad und nimmt die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft an. Das verschafft ihr für wenige Jahre trügerische Sicherheit. Noch vor der Annexion der Tschechoslowakei durch Nazi-Deutschland gelingt ihr die Flucht nach Großbritannien. In Wales kann sie zunächst in einem Heim für emigrierte Kinder arbeiten. Nach dessen Schließung zu Beginn des 2. Weltkriegs bewirtschaftet Ada Lessing eine kleine Farm.

Bittere Erfahrung bei der Rückkehr

Erst Ende 1946 kehrt Ada Lessing nach Deutschland zurück und muss feststellen, dass sie in Hannover nicht erwünscht ist. Der niedersächsische Kultusminister Adolf Grimme beruft sie daraufhin im Benehmen mit der britischen Verwaltung zur Beraterin der „Teacher Reeducation“ und trägt ihr den Aufbau des Lehrerfortbildungsheims im Schloss Schwöbber bei Hameln an, dessen Leitung sie 1947 übernimmt. Dieses Amt übt sie bis zu ihrem Tode am 10. November 1953 aus.

Die Stadt Hannover braucht noch über 50 Jahre, um die Lessings angemessen zu würdigen. Erst seit 2006 trägt die Schule, die sie 1919 gegründet hatten, offiziell den Namen „Ada und Theodor Lessing Volkshochschule“.

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Lothar Pollähne

ist Journalist und stellvertretender Bezirksbürgermeister in Hannover.

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