Geschichte

Abschied vom Schandparagrafen

von Ansgar Dittmar · 10. März 2014

Vor 20 Jahren wurde Paragraf 175 des Strafgesetzbuchs gestrichen. Seit 1871 hatte der „Schwulenparagraf“ männliche Homosexualität unter Strafe gestellt. Noch heute warten viele Betroffene von damals auf eine Entschädigung.

Liest man das Plenarprotokoll der 216. Sitzung des Deutschen Bundestages vom 10. März 1994, so zeigt es die einmütige Haltung aller Parteien, dass Paragraf 175 des Strafgesetzbuchs – der berühmte und ebenso berüchtigte „Schwulenparagraf“ – abgeschafft werden soll. Der Paragraf also, der mit Einführung des Strafgesetzbuchs 1871 männliche Homosexualität unter Strafe stellte. Der Paragraf, dessen Vorläufer im Preußischen Allgemeinen Landrecht und in der „Constitutio Criminalis Carolina“ zu finden sind. Ein Schandparagraf, der 1935 von den Nationalsozialisten verschärft und um die Paragrafen 175 a und 175 b ergänzt wurde und der in der alten Bundesrepublik mit den Paragrafen 175, 175 a unverändert übernommen wurde. In der ehemaligen DDR wurde zunächst Paragraf 175 StGB übernommen und mit Paragraf 151 ein vergleichbares Strafinstrument geschaffen, welches letztlich 1988 abgeschafft wurde.

Zwischen 1946 und 1994 wurden in der alten Bundesrepublik fast 65 000 Männer verurteilt – nur weil sie schwul waren. Dazu kommt eine Dunkelziffer von Menschen, die angeklagt, verdächtigt und verfolgt wurden. Ihre gesellschaftliche Reputation wurde zerstört. Zum Teil brachten sie sich um. Allein zwischen 1950 und 1969 kam es zu mehr als 100 000 Ermittlungsverfahren aufgrund des Paragrafen 175. Ein besonders trauriger Höhepunkt war eine Verhaftungswelle in Frankfurt am Main, angetrieben von einem Staatsanwalt und einem Richter, die sich in ihrem Eifer auch über geltendes Prozessrecht hinwegsetzten.

Das berufliche und gesellschaftliche Aus drohte

Dieser Eifer trieb viele Beschuldigte in den Selbstmord oder in die Emigration. So sprang ein 19-Jähriger vom Goetheturm als er die Vorladung vors Gericht bekam, ein weiterer Beschuldigter vergiftete sich gemeinsam mit seinem Freund mit Leuchtgas. Andere mussten ins Ausland fliehen, da ihnen das berufliche und gesellschaftliche Aus drohte.

1957 verteidigte in einem der denkwürdigsten, weil verabscheuungswürdigsten Urteile das Bundesverfassungsgericht die Rechtmäßigkeit des Paragrafen 175. Die Karlsruher Richter rechtfertigten die Fassung des Paragrafen 175 von 1935, da das Gesetz kein nationalsozialistisch geprägtes Gesetz sei. Hier sprach die Stimme des Mittelalters!

Erst die Strafrechtsreform unter dem damaligen Justizminister Gustav Heinemann führte zu einer Veränderung der Strafnorm. Dennoch wurden weiterhin jährlich mehrere Hundert Männer angeklagt und verurteilt. Erst das 29. Strafrechtsänderungsgesetz, das am 10. März 1994  in der 216. Sitzung des Deutschen Bundestages beschlossen wurde, führte – auch aufgrund der Strafrechtsharmonisierung durch Wiedervereinigung – zu einer Streichung des Schand-Paragrafen aus dem Strafgesetzbuch.

Rot-Grün machte den Weg für ein Lebenspartnerschaftsgesetz frei

Danach kam es zu einer rasanten Entwicklung, die den gesellschaftlichen Blick auf Homosexualität veränderte. Schon 1994 wurde über die rechtliche Absicherung gleichgeschlechtlicher Paare gesprochen, aber erst der Regierungswechsel 1998 machte den Weg frei für ein Lebenspartnerschaftsgesetz, das damals wie – in Teilen – heute noch von den Unions-Parteien heftigst bekämpft wurde.

Auf den Tag genau 20 Jahre ist es her, dass mit der Streichung des Paragrafen 175 aus dem Strafgesetzbuch der Blick auf Homosexualität verändert wurde. 20 Jahre, in denen allerdings nur wenig geschafft wurde, das die Opfer dieses Paragrafen rehabilitiert. Zwar wurden 2002 alle nationalsozialistischen Unrechtsurteile – und damit auch die Urteile nach Paragraf 175 – aufgehoben. Aber bis heute warten die Opfer, die zwischen 1949 und 1994 nach diesem Paragrafen verurteilt wurden auf Rehabilitation und Entschädigung.

Dabei ist die strafrechtliche Verfolgung von einvernehmlichen homosexuellen Handlungen unter Erwachsenen ein Verstoß gegen die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK). Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat bereits 1981 festgestellt, dass entsprechende Strafnormen das in Artikel 8 EMRK garantierte Recht auf Achtung des Privatlebens verletzen. In der Folge wurden durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte den Betroffenen mehrfach Entschädigungen zugesprochen. Der Bundesrat hatte 2012 die Bundesregierung aufgefordert, Maßnahmen zur Rehabilitierung und Unterstützung der Verurteilten einzuleiten. Doch bis heute ist nichts geschehen. Es wird Zeit, dass die neue Bundesregierung endlich handelt und das vergangene Unrecht aufhebt!

Das Grundgesetz schützt Lesben und Schwule nicht ausreichend

Was bleibt beim Blick zurück? Ein ungutes Gefühl. Gerade das erwähnte Urteil des Bundesverfassungsgerichts macht die Abscheu der Richter deutlich, die ihr aktuelles gesellschaftliches Bild zur Richtschnur der Entscheidung gemacht haben. Minderheitenschutz darf aber nicht nur von der jeweiligen gesellschaftlichen Mehrheitsmeinung abhängig sein. Insofern bleibt es notwendig, dass das Grundgesetz im Artikel 3 Absatz 3 um das Diskriminierungsmerkmal „sexuelle Identität“ erweitert wird.

Lesben und Schwule sind die letzte Gruppe der von den Nationalsozialisten Verfolgten, denen nicht der besondere Schutz durch Artikel 3 des Grundgesetzes zuteil wird. Der 20. Jahrestag der Abschaffung des Paragrafen 175 wäre ein guter Start, um dieses Unrecht zu beseitigen.

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Ansgar Dittmar

 (*1971) ist Rechtsanwalt und Fachanwalt für Arbeitsrecht sowie ehrenamtlicher Kreisvorsitzender der Arbeiterwohlfahrt in Frankfurt am Main. Er war von 2008 bis 2016 Bundesvorsitzender der Arbeitsgemeinschaft der Lesben und Schwulen in der SPD (Schwusos). Die Arbeitsgemeinschaft hat sich 2016 umbenannt und heißt jetzt: Arbeitsgemeinschaft der SPD für Akzeptanz und Gleichstellung (SPDQueer).

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