Ab 2016 Hitlers „Mein Kampf“ auf dem Markt?
Das sind die Fakten: Das Urheberrecht für Hitlers „Mein Kampf“ liegt – so wollten es die Alliierten – beim bayerischen Staat. Nach 70 Jahren erlischt es, so sagt es das Gesetz. Die „Bibel der Nazis“ wurde einst in einer Gesamtauflage von etwa 12,5 Millionen Büchern gedruckt. Bisher konnte die bayerische Staatsregierung als Inhaberin der Rechte jeden Nachdruck verbieten. Müssen wir ab 2016 damit rechnen, dass das obszöne Buch, voller Hass auf Juden, auf andere Völker, auf Andersdenkende wieder auf den Markt kommt und von grölenden Neonazi-Horden bei ihren Aufmärschen geschwenkt wird?
Die frühere Bundesjustizministerin Herta Däubler-Gmelin beruhigt: „Das strafrechtliche Verbot der Volksverhetzung bleibt bestehen. Die Formulierung des Paragrafen 130 Strafgesetzbuch ist hier ganz klar: Wer zu Hass, Gewalt oder Willkürmaßnahmen gegen nationale, rassische oder ethnisch bestimmbare Gruppierungen oder Teile der Bevölkerung aufstachelt oder sie beschimpft oder verleumdet, wird mit Gefängnis bestraft.“ Das hätten Bundesgerichtshof und Bundesverfassungsgericht immer wieder bestätigt. „Wer also Hitlers Hassbuch verbreitet, fällt ganz klar unter diese Strafvorschrift und kommt selbst als Volksverhetzer vor den Kadi“, betont Däubler-Gmelin.
Schon heute kommt man leicht an das Buch heran
Das Strafrecht ist das eine, die Realität das andere. Wer sich im Internet schlau macht, ist erschüttert, wie einfach es ist, an das Buch heranzukommen. Man kann es herunterladen, ausländische Verlage haben es im Angebot, auf Militaria spezialisierte Antiquariate im In- und Ausland ebenso. Von Hitler signierte Exemplare sind viele Tausend Euro wert. Herta Däubler-Gmelin allerdings warnt Verkäufer und Interessenten: „Ausländische Exemplare fallen zwar nicht unter das deutsche Urheberrecht, strafrechtlich bedeutsam ist aber die Verbreitung.“
Immer wieder wird argumentiert, das weitere Verbot nach dem Auslaufen des Urheberrechts sei reine Symbolpolitik, da jeder, der das Buch haben möchte, es sich auch heute schon beschaffen kann. Doch manchmal ist auch Symbolpolitik – und der Zugriff des Strafrechts bei Verstößen – dringend geboten. Die Juristin und Politikerin Däubler-Gmelin argumentiert: „Eine straflose Verbreitung dieses Buches halte ich für völlig unmöglich. Das wäre den Millionen Ermordeter und ihren noch lebenden Angehörigen wirklich nicht zumutbar. Und unserer auf Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit ausgerichteten Zivilgesellschaft auch nicht. Das gilt übrigens auch für die heutigen Hetzlieder und Hetzschriften der Alt- und Neubraunen.“
Seehofer kann sich nicht entscheiden
Seit Jahren setzt man sich nicht nur in Bayern mit dem Tag X, also dem 1. Januar 2016 auseinander, an dem das Urheberrecht erlischt. Nach langen Debatten im Landtag und in der Staatsregierung entschied man sich für eine wissenschaftlich begleitete Auflage, an der das angesehene Münchner Institut für Zeitgeschichte seit Jahren arbeitet. 500 000 Euro hat das Land den Wissenschaftlern für diese Arbeit spendiert, doch nun zögert Ministerpräsident Horst Seehofer wegen Protesten aus Israel wieder mit dem Okay für diese Ausgabe, die rund 2000 Seiten umfassen soll und Satz für Satz das Machwerk auseinandernimmt.
Herta Däubler-Gmelin setzt sich ganz entschieden für die Wissenschaftler und ihre akribische Arbeit ein: „Ich finde den Plan sehr vernünftig. Das ganze Buch strotzt ja vor Unwahrheiten, Dummheit, Widersprüchen und menschenverachtender Hetze.“ Das würden die Wissenschaftler mit ihren Kommentierungen herausarbeiten. Eine solche Ausgabe werde ganz gewiss keine Propaganda für die Nazis werden. „Im Gegenteil, eine solche Ausgabe kann helfen, jungen Menschen von heute und morgen klar zu machen, welch entsetzlich dummen, brutalen und inhumanen Sprüchen die Deutschen damals aufgesessen sind“, sagt Däubler-Gmelin. Immerhin habe dieses Buch bei den meisten Familien im Schrank gestanden, denn „Mein Kampf“ wurde bei Trauungen, Schulabschlüssen, Parteiaufnahmen, Aufnahmen in den Beamtenstand und anderen Anlässen verschenkt. Niemand könne sich also damit herausreden, er habe „nichts gewusst“.
Die Ausreden der „Generation Hitler“
Nach 1945 wurden zahlreiche Exemplare des Buchs versteckt oder verheizt. Man wollte sich nicht mit „Mein Kampf“ im Bücherregal erwischen lassen. Bei Befragungen durch die Alliierten – oder später durch die eigenen Nachkommen in den Familien – wurde immer wieder beteuert, man habe dieses Machwerk nie gelesen, zu dumm, zu verworren, zu schwülstig, zu langweilig, zu sprachlich schlecht sei es gewesen. Eine durchaus anzweifelbare Rechtfertigung der „Generation Hitler“, auch wenn das alles zutrifft auf das vor Hass und Gemeinheit strotzende Buch.
Immer wieder wird heute argumentiert, die Bundesrepublik sei demokratisch reif genug, sich mit dem Buch zu beschäftigen – und durchzusetzen sei das Verbot ohnehin nicht. Doch die Meinung der früheren Bundesjustizministerin überzeugt mehr als die Plädoyers gegen Verbote: „Die Auseinandersetzung mit Ideologen und Politikern, die Menschen verachten, ist heute nötiger denn je. Das gilt nicht nur für die Bekämpfung der Neonazis. Keiner von uns, der Verantwortung für unsere Zivilgesellschaft fühlt, darf sich vor solchen Auseinandersetzungen drücken. Sonst verraten wir die Menschen, die von den Nazis gequält und ermordet worden sind. Und helfen dabei, neue Opfer möglich zu machen.“