70 Jahre Waldheim: Erinnerung an einen DDR-Unrechtsprozess
Waldheim ist eine beschauliche Kleinstadt in Mittelsachsen mit knapp 9.000 Einwohner*innen, die sich selbst als „Perle des Zschopautales“ bezeichnet. Waldheim war zugleich vor 70 Jahren der Schauplatz einer Prozessreihe, die allen Regeln der Rechtsstaatlichkeit widersprach. Die Waldheimer Prozesse sollten nach dem Willen der DDR-Führung so etwas wie das Ost-Pendant der Nürnberger Prozesse werden. Nur ließen sie jede Form von Rechtsstaatlichkeit vermissen.
„Immer weniger Menschen wissen Bescheid“
Mehr als 3.300 Menschen wurden in gut zwei Monaten abgeurteilt. Teilweise gingen die Verfahren kaum eine Viertelstunde. Literaturnobelpreisträger Thomas Mann schrieb in einem Brief an Walter Ulbricht, ob es einen Sinn habe, die Gefangenen „ganz im wildesten Stil des Nazismus und seiner Volksgerichte, ganz im Stil jenes zur Hölle gefahrenen Roland Freisler, der genau so seine Zuchthaus- und Todessprüche verhängte, aburteilen zu lassen und damit der nichtkommunistischen Welt ein Blutschauspiel zu geben, das ein Ansporn ist zu allem Hass“.
Unter den in Waldheim Verurteilten waren etwa 60 Jugendliche und 160 Menschen, die wegen Vergehen nach dem Ende der NS-Herrschaft inhaftiert worden waren, unter anderem auch Sozialdemokraten. Einer der wenigen noch lebenden Verurteilten ist der Sozialdemokrat Heinz-Joachim Schmidtchen aus Berlin. Der 91-Jährige befürchtet, dass die Erinnerung in den kommenden Jahren noch weiter verblassen könnte. „Immer weniger Menschen wissen Bescheid. Ich habe immer wieder versucht, jemanden zu finden, der das Thema wieder ins Bewusstsein rückt, aber ich finde niemanden“, sagt Schmidtchen im Gespräch mit dem „vorwärts“.
„Ich habe nichts Verbotenes getan“
Er berichtet von seinem Verfahren vor der Strafkammer des Landgerichtes Chemnitz. Das erste Mal wurde er am 11. Mai 1950 geladen. Plötzlich war er 20 Jahre älter und trug einen anderen Namen. Eine Verwechslung. Vier Wochen später stand er wieder vor Gericht und wurde im Schnellverfahren am 12. Juni 1950 zu zehn Jahren Haft verurteilt. Wegen illegaler Gruppenbildung und Verbreitung tendenziöser Gerüchte. Erst am 11. Juli 1954, nach insgesamt acht Jahren und zwei Monaten, kam Schmidtchen wieder frei.
Das „Vergehen“, für das er in Waldheim verurteilt wurde, lag da schon rund acht Jahre zurück. Im Frühjahr 1946 klebte er in Berlin-Prenzlauer Berg Plakate gegen die drohende Zwangsvereinigung von KPD und SPD. „KPD+SPD=Diktatur“, stand auf den Plakaten. 50 Stück aus Westberlin. „Ich habe nichts Verbotenes getan. Die SPD war in ganz Berlin zugelassen“, sagt Schmidtchen, der damals zwar nicht Mitglied der SPD war, aber der Sozialdemokratie durchaus nahe stand. „Ich würde es wieder machen“, sagt der 91-Jährige heute, in dem Wissen, was danach geschah.
Willy Brandt brachte ihn zur SPD
Am 11. Mai 1946 kam er mit 16 Jahren in Haft. Er saß zunächst in einem Keller in der Prenzlauer Allee, kam Ende Juni nach Hohenschönhausen und schließlich im August nach Sachsenhausen, in ein sowjetisches Speziallager. Dort, wo tausende Menschen starben, überlebte Schmidtchen, ehe er am 16. Februar 1950 nach Waldheim überstellt und dort verurteilt wurde.
Nach seiner Freilassung acht Jahre später ging er zunächst nach West-Berlin. Doch seine Angst vor den DDR-Schergen war zu groß. „Ich konnte in Berlin nicht bleiben“, sagt Schmidtchen und zog nach Göppingen. Dort war es 1972 Willy Brandt, der dafür sorgte, dass er letztlich doch in die SPD eintrat. Schmidtchen wurde Ortsvereinsvorsitzender und pflegte gute Kontakte zu Erhard Eppler. Nach Berlin zog der heute 91-Jährige erst im Jahr 2000 zurück – zehn Jahre nach dem Ende des SED-Regimes.
ist Redakteur des „vorwärts“. Er hat Politikwissenschaft studiert und twittert gelegentlich unter @JonasJjo