50 Jahre Linkswende: Als die Jusos kritisch wurden
Im Dezember 1969 beschließen die Jusos auf ihrem Bundeskongress die sogenannte Linkswende. Als Ausdruck dieser inhaltlichen Neuausrichtung wird Karsten Voigt zum neuen Bundesvorsitzenden der Jusos gewählt. „Zur Vorbereitung haben sich die linken Juso-Bezirke mehrfach vorher getroffen und Entscheidungen über die personelle Zusammensetzung des neuen Vorstands getroffen“, berichtet Voigt knapp 50 Jahre später im Gespräch mit dem „vorwärts“. Ein Weg, den die Jusos damals in enger Abstimmung mit Parteilinken wie Jochen Steffen aus Schleswig-Holstein, Harry Ristock aus Berlin oder Peter von Oertzen aus Hannover gingen.
„Meine Güte, wir haben die Mehrheit“
Auch Heidemarie Wieczorek-Zeul war als Delegierte beim Bundeskongress 1969 mit dabei, als die Jusos die Linkswende beschlossen. „Ich weiß noch, wie mein damaliger südhessischer Juso-Vorsitzender Willi Görlach gesagt hat: Meine Güte, wir haben die Mehrheit, zum ersten Mal.“ Die Linkswende bezeichnet sie in der Rückschau als „richtig großen Aufbruch“. Wieczorek-Zeul sagt: „Die Linkswende war im Grunde die Demokratisierung der Sozialdemokratie.“ Die wichtigste Aufgabe sei es ab 1969 gewesen, „dass die Jusos die reformbereiten Kräfte der außerparlamentarischen Bewegung in die SPD einbezogen haben“.
Der Linksschwenk der Jusos ist stark geprägt durch die Studentenbewegung Ende der 60er-Jahre. „Die Jusos waren ein sehr starker Teil der Studentenbewegung“, sagt Karsten Voigt. In seinem SPD-Ortsverein in Frankfurt sind beispielsweise auch Mitglieder des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) organisiert. Der große Unterschied zwischen den Jusos und Teilen der 68er-Bewegung ist das Bekenntnis zur Gewaltfreiheit: „Die Jusos waren immer dafür, die kapitalistische Gesellschaft durch Reformen zu überwinden, und nicht durch terroristische Anschläge auf Personen oder Kaufhäuser.“
Skepsis der SPD-Führung
Herbert Wehner als Fraktionvorsitzender und andere Vertreter der SPD-Führung reagieren damals mit großer Skepsis beziehungsweise Ablehnung auf die Linkswende, wie Voigt berichtet. Doch die inhaltliche Neuorientierung zahlt sich aus. Friedliche Teile der 68er-Bewegung finden bei den Jusos eine neue Heimat. Der Verband erreicht in den 70er-Jahren mit 300.000 Mitgliedern seinen Höchststand. 1974 wird Heidemarie Wieczorek-Zeul als erste Frau Bundesvorsitzende der Jusos. Sie sagt dazu heute: „Die Jungsozialisten waren wie die gesamte SPD zu dem Zeitpunkt eher ein Männerbund. Ich habe das ernst genommen, was August Bebel gesagt hat, dass ohne die Emanzipation und die soziale Gleichstellung der Frauen keine Demokratie verwirklicht ist. Deswegen habe ich mich vor allem dafür engagiert, dass mehr Frauen mitarbeiten.“
Nach ihrer Wahl bekommt Wieczorek-Zeul den Spitznamen „rote Heidi“, worauf sie schlagfertig kontert: „Lieber rot als blass.“ Sie habe die Erfahrung gemacht, die Frauen auch heute machen: „Wer die Spitze anstrebt, wird als Frau nochmal schärfer bewertet, beobachtet und kritisiert. Was man bei Männern als Durchsetzungsfähigkeit durchgehen lässt, wird bei Frauen schnell als zickig beschrieben.“ Doch das habe sie nie interessiert. In Wieczorek-Zeuls Zeit als Bundesvorsitzende fällt auch die scharfe Kritik der Jusos am Einstieg in die zivile Nutzung der Kernernergie 1976. „Wir haben dazu harte Auseinandersetzung in der SPD gehabt. Meine Überzeugung war immer, dass die SPD die Garantin gegen die Ausbeutung von Mensch und Natur sein muss. Durch die falschen Weichenstellungen damals ist es nicht möglich gewesen, die sozialen und ökologischen Bewegungen in der SPD zusammenzuführen.“
Doppelstrategie als Erfolgsfaktor
Diese Doppelstrategie – in Partei und Regierung, aber auch in Institutionen und sozialen Bewegungen verankert zu sein – sei noch heute sowohl für die Jusos als auch für die SPD insgesamt notwendig. Diese Strategie, „dass man als Jusos auch in sozialen Bewegungen mitkämpft“, war auch für Franziska Drohsel der Grund, sich bei den Jusos zu engagieren. Die Berlinerin war von 2007 bis 2010 Bundesvorsitzende des Verbands. „Die Linkswende hatte für mich von Anfang an in meiner ganzen politischen Juso-Arbeit eine wahnsinnig große Bedeutung“, sagt Drohsel heute im Gespräch mit dem „vorwärts“. Vor allem das Selbstverständnis der Jusos als eigenständiger Richtungsverband sei für sie entscheidend gewesen, und dass es bei den Jusos auch immer um antikapitalistische Positionen und eine grundsätzliche Umwälzung der Gesellschaft gegangen sei.
Die Jusos als angepasste Nachwuchsorganisation – das wäre zumindest mit Franziska Drohsel als Bundesvorsitzende nicht denkbar gewesen. „Der Grund, wieso ich mich bei den Jusos engagiert habe, war auch, dass ich die SPD damals sehr kritisch gesehen habe. Ich hatte sehr große Vorbehalte, mich im SPD-Kontext zu organisieren. Wenn die Jusos nicht so kritisch und jungsozialistisch gewesen wären, hätte ich da als linke Jugendliche gar nicht mitgemacht.“
Viel Lob für die aktuellen Jusos
Die aktuelle Arbeit der Jusos beurteilt Drohsel ausgesprochen positiv: „Ich finde die gegenwärtigen Jusos ganz großartig.“ Kevin Kühnert kennt sie aus der langjährigen gemeinsamen politischen Arbeit in Berlin, seit er als 14-Jähriger den Jusos beigetreten ist. Zur inhaltlichen Ausrichtung der Jusos sagt Drohsel: „Auch mal den Mut zu haben, eine Konfrontation einzugehen, und Diskussionen wie die über Enteignungen anzustoßen, finde ich absolut richtig und notwendig.“
Ähnlich positiv das Karsten Voigt: „Die Jusos haben wieder einen höheren Stellenwert als in früheren Jahren. Ich sehe das mit großer Freude.“ Entsprechend freut er sich auch auf seinen Besuch beim Linkswendekongress der Jusos am Freitagabend in München. „Außerordentlich große Sympathie“ hat Voigt für den Kurs der Jusos unter Kühnert. „Dass er dabei auf Widerspruch stößt, ist zu erwarten. Dass er für manche ein Schreckgespenst ist, überrascht mich ebenfalls nicht. Das ist bei uns genauso gewesen.“
ist Redakteur des „vorwärts“. Er hat Politikwissenschaft studiert und twittert gelegentlich unter @JonasJjo