Geschichte

30 Jahre Mauerfall: „Die SPD hat nie den Gedanken der Wiedervereinigung aufgegeben.“

Im Herbst 1990 war Hans-Jochen Vogel Vorsitzender der West-SPD, Wolfgang Thierse Chef des Pendants in er DDR. Im vorwärts-Gespräch erinnern sie sich an die Zeit zwischen Mauerfall und Wiedervereinigung – und räumen mit einigen Legenden auf.
von Kai Doering · 2. Oktober 2019
Drei, die sich gut an 1989 erinnern: Wolfgang Thierse, Hanka Kliese und Hans Jochen Vogel (v.l.)
Drei, die sich gut an 1989 erinnern: Wolfgang Thierse, Hanka Kliese und Hans Jochen Vogel (v.l.)

In diesem Herbst jährt sich der ­Mauerfall zum 30. Mal. Wie haben Sie den 9. November 1989 erlebt?

Hans-Jochen Vogel: Der Ablauf des 9. November 1989 das waren Stunden, die ich in meinem Leben nie vergessen werde. Ich war in Bonn, habe das im Fernsehen verfolgt und kann mich gut erinnern, wie Hanns Joachim Friedrichs um zehn Uhr in den „Tagesthemen“ die Öffnung der Mauer mitgeteilt hat. Da habe ich gedacht: Herrgott nochmal, was ist das für ein Tag! Was bedeutet das für Willy Brandt? Was bedeutet das für uns, die Sozialdemokraten, und die Menschen in der DDR? Und dass Deutschland das 43, 44 Jahre nach dem Kriegsende erlebt, das ist ungeheuer und zeigt, dass wir doch nicht abstreiten können, dass es der Herrgott mit uns gut meint.

Hanka Kliese: Die Bilder der jubelnden Menschen in Berlin kenne ich nur aus dem Fernsehen. Ich war damals, im Herbst 1989, neun Jahre alt und lebte in Karl-Marx-Stadt, also nicht gerade in ­einem der Zentren der Revolution. Meine Familie war eine systemkonforme Familie. Meine Eltern waren beide Lehrer und in der SED. Der Mauerfall stellte sie vor allem vor die Frage: Wie geht es weiter?

Wolfgang Thierse: Der 9. November überstrahlt alles andere im Herbst 1989. Aber er war nicht das entscheidende Datum der Friedlichen Revolution. Das war der 9. Oktober. Selbst, wenn man an diesem Tag nicht bei der Großdemons­tration in Leipzig war, hatte man ja Angst, was passiert da. Als dann am 10. Oktober die Bilder aus Leipzig kamen und wir wussten, es ist kein Schuss ­gefallen, fiel die Angst von uns ab. Das war der Höhe- und Scheitelpunkt der Friedlichen Revolution.

Kurz zuvor, am 7. Oktober, war die SDP gegründet worden. Wie haben Sie diese Parteigründung wahrgenommen?

Hans-Jochen Vogel: Die Parteigründung kam nicht ganz überraschend. Wir hatten ja ständig Kontakt mit Bürgerrechtlern in der DDR, die uns schon in den Wochen davor sagten, es gäbe gewisse Anzeichen dafür, dass sich ­eine SDP gründen könnte. Von der Partei­gründung selbst haben wir dann aus den Nachrichten erfahren. Ich habe mich gefreut. Gleichzeitig war mir klar, dass wir als West-SPD alles dafür tun mussten, um nicht den Eindruck zu erwecken, die SDP-Gründung sei von uns beauftragt oder gar gesteuert worden.

Wolfgang Thierse: Ich war zunächst mal neugierig, welche Ziele die Gruppe verfolgt. Dann gab es den Gründungsaufruf, der herumging. Was dort stand, fand ich alles sehr zustimmungsfähig – mit einer Einschränkung: Mich hat die Absage an die Deutsche Einheit geärgert. Eine realpolitische Begründung, warum man jetzt nicht sofort die Deutsche Einheit wollte, hätte ich sofort eingesehen, aber die moralische Begründung hat mich geärgert. Aber ich war damals ja noch engagiert beim Neuen Forum und war nicht sicher, ob eine Parteigründung zu diesem Zeitpunkt der richtige politische Schritt ist. Das war meine skeptische, aber inhaltlich sympathisierende Reaktion.

Was hat Sie bewegt, im Januar 1990 in die SDP einzutreten?

Wolfgang Thierse: Das Neue Forum war ja ganz schön, eine Bürgerbewegung, deren wichtigstes Ziel war, Öffentlichkeit herzustellen, den sprachlosen und unterdrückten Bürgern Sprache zu geben und Angst zu überwinden. Das fand ich absolut richtig. Aber im Laufe der Wochen des Jahres 1989 dachte ich: Es macht keinen Sinn, immer leidenschaftlich zu diskutieren und nicht voranzukommen. Irgendwann muss doch die Frage nach der Macht gestellt werden. Da habe ich gesagt: Jetzt ist der Punkt, dass ich in die SDP eintrete. Sie war im Herbst 89 die Gruppierung, die am radikalsten den Alleinvertretungsanspruch und die Macht der SED infrage gestellt hat. Aber Sozialdemokrat war ich nach meinem Selbstverständnis schon lange, deshalb kam nur die Sozialdemokratie als Partei für mich infrage.

In der Erinnerung einiger Protagonisten dauerte es lange, bis sich Vertreter von SPD und SDP zum ersten Mal trafen. Woher kam die Zurückhaltung?

Hans-Jochen Vogel: Das ist ein Vorwurf, den ich zurückweise. Inwiefern sollen wir gezögert haben? Die SDP ist am 7. Oktober gegründet worden. Gleich am nächsten Tag habe ich das öffentlich und ausdrücklich begrüßt. Bereits am 21. Oktober war mit Steffen Reiche ein Repräsentant der SDP im Fraktionsvorstand und im Präsidium der SPD zu Gast. Am 10. November, keine 24 Stunden nach dem Mauerfall, waren Willy Brandt, Dietrich Stobbe und ich in Berlin und haben uns dort mit den damaligen Vorsitzenden der Ost-SPD Ibrahim Böhme und Stephan Hilsberg getroffen. Ein Foto davon ist damals sogar in den Zeitungen erschienen. Wie kann man da sagen, dass wir gezögert haben.

Ein weiterer Eindruck, der sich hält, ist der, dass die SPD gegen die ­Wiedervereinigung gewesen sei. Wie konnte der entstehen?

Hans-Jochen Vogel: Die SPD hat nie den Gedanken der Wiedervereinigung aufgegeben, weder in Erklärungen noch mit Beschlüssen. Es ging damals nur um die Frage, wie die Wiedervereinigung ablaufen soll. Wir haben damals die Meinung vertreten, dass sich die Bürgerinnen und Bürger in Ost und West per Volksentscheid eine neue Verfassung geben sollten. Wir haben dann aber erkannt, dass die Zeitfenster, gerade was die Situation in der Sowjetunion anging, schnell immer kleiner wurden. Den Text für eine neue, gemeinsame Verfassung auszuarbeiten, hätte mindestens ein Jahr gedauert. Diese Zeit hatten wir aus unserer damaligen Sicht nicht.

Wolfgang Thierse: Dass dieser Eindruck entstehen konnte, ist ganz wesentlich Oskar Lafontaine geschuldet. Seine kritischen Einwände gegen die Kohlsche Vereinigungspolitik konnte ich gut nachvollziehen. Ich habe damals immer zu ihm gesagt: Oskar, du kannst die kritischen Einwände vortragen, aber du musst sie einbetten in ein starkes emotionales Ja zu den Ostdeutschen. Dieses wirklich emotionale Ja zur Einheit und zu den Ostdeutschen hat er nie über die Lippen bringen können. Das war auch ­einer der Gründe, warum wir nicht nur die Volkskammerwahl am 18. März 1990, sondern auch die erste gesamtdeutsche Bundestagswahl am 2. Dezember ganz furchtbar verloren haben.

Sie haben es bereits erwähnt: Die SPD drängte 1990 auf einen Volksentscheid über die Vereinigung und eine gemeinsame Verfassung. Stattdessen kam es zum Beitritt der DDR zur Bundesrepublik. War das im Nachhinein ein Fehler?

Wolfgang Thierse: Wir jungen Sozialdemokraten hatten ursprünglich die Idee, die deutsche Einheit in einem Prozess von drei, vier Jahren zu gestalten, Schritt für Schritt. Die Wahl am 18. März aber war an einem Punkt absolut eindeutig: Eine große Mehrheit der DDR-Bürger wollte die schnelle Einheit, wollte so schnell wie möglich unter das rettende Dach der Bundes­republik Deutschland. Hinzu kamen der faktische Zusammenbruch der DDR-Wirtschaft und die außenpolitische Ungewissheit, wie lange sich Gorbatschow mit seinem Kurs der Öffnung in der Sowjetunion würde halten können. All das hat zu einer enormen Beschleunigung der Ereignisse geführt.

Hans-Jochen Vogel: Unter diesen Bedingungen eine Verfassung auszuarbeiten, hätte entweder mindestens ein Jahr gedauert oder wäre zur Farce geworden, wenn man sich nur ein paar Tage Zeit genommen hätte. Es ist der SPD aber gelungen, dass zunächst in der Gemeinsamen Verfassungskommission und dann im Bundesrat Punkte, die uns wichtig waren, in das Grundgesetz eingefügt wurden, nämlich die Pflicht des Staates, die Gleichberechtigung von Frauen und Männern zu fördern und Benachteiligungen zu beseitigen, der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen und der Tiere, die Fortentwicklung der ­Europäischen Union als Staatsziel und ein Mitwirkungsrecht des Bundestags und des Bundesrats in europäischen Angelegenheiten sowie das kommunale Wahlrecht für EG-Ausländer.

Mit dem Mauerfall und der Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 begann ein Prozess, der bis heute nicht abgeschlossen ist. Was ist gelungen, wo sehen Sie Nachholbedarf?

Hanka Kliese: Die Debatten, die heute über die Zeit nach der Friedlichen Revolution geführt werden, empfinde ich teilweise als ein bisschen schräg, weil dabei die große Leistung, die hinter der deutschen Einheit steht, und die geringe Zeit, die damals zur Verfügung stand, völlig zu kurz kommen. Da wird manchmal so getan, als hätten alle wochenlang Zeit gehabt, am Tisch zu sitzen und sich was Schönes zu überlegen. Wie klein das Zeitfenster eigentlich war und wie viel Gutes dabei herausgekommen ist, finde ich schon beeindruckend.

Wolfgang Thierse: Die Übernahme der DDR-Bürger in die Sozialsysteme der Bundesrepublik ist eine große Leistung. Im Unterschied zu unseren östlichen Nachbarn ist niemand, weil er DDR-Bürger war, in Armut gefallen, sondern er ist von den Sozialsystemen aufgefangen worden. Was nicht verhindert werden konnte, ist, dass der Umbau von der Planwirtschaft zur Marktwirtschaft für viele Ostdeutsche ein schmerzlicher Vorgang wurde mit der Erfahrung von Arbeitslosigkeit und den Ängsten vor Arbeitslosigkeit.

Was muss passieren, um die innere Einheit zu vollenden?

Wolfgang Thierse: Die Einheit könnte dann erreicht sein, wenn erstens die ökonomischen und sozialen Unterschiede zwischen West und Ost so sind wie die zwischen Schleswig-Holstein und Baden-Württemberg. Dann ist deutsche Normalität erreicht, denn solche Unterschiede hat es immer gegeben. Und zweitens: Wenn die Biografie und Lebensleistung der Ostdeutschen seit 1989 mehr zählt als das, was vor 1989 mit ihnen und von ihnen passiert ist.

Hanka Kliese: Ich merke, dass weder die Westdeutschen besonders aufgeschlossen sind demgegenüber, wie die Menschen bei uns leben, umgekehrt sich aber auch ein Ostdeutscher nicht vorstellen kann, dass es für Westdeutsche frustrierend ist, dass auch sie jahrelang den Solidaritätszuschlag zahlen und wir aus ihrer Sicht trotzdem unzufrieden sind. Um die innere Einheit zu vollenden, müssen beide Seiten stärker als bisher aufeinander zugehen. Dafür brauchen wir mehr Begegnungen. Ich wünsche mir eine vollständige Überwindung des Ost-West-Denkens.

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