Geschichte

200. Geburtstag: Warum die SPD Friedrich Engels nicht vergessen sollte

Friedrich Engels beschrieb das Elend im frühindustriellen England und forderte die „Konzentration aller politischen Macht in den Händen der Volksvertretung“. Auch 200 Jahre nach seiner Geburt hat er der SPD noch einiges zu sagen.
von Detlef Lehnert · 11. November 2020
Mehr als nur der Mann hinter Karl Marx: Vor 200 Jahren wurde Friedrich Engels geboren. Der SPD hat er auch heute noch einiges zu sagen.
Mehr als nur der Mann hinter Karl Marx: Vor 200 Jahren wurde Friedrich Engels geboren. Der SPD hat er auch heute noch einiges zu sagen.

Willy Brandt würdigte 1970 in seiner Rede zum 150. Geburtstag von Friedrich Engels diesen als „Freund August Bebels“ und „Mentor der ersten Generation führender deutscher Sozialdemokraten“. Zum 100. Geburtstag am 28. November 1920 war im „Vorwärts“ ein Leitartikel von Eduard Bernstein erschienen, der Engels nicht nur den „Mittler der geistigen Errungenschaften seines Freundes Karl Marx“, sondern zugleich einen „Lebensbejaher und Zukunftsbejaher“ nannte: „Was ihm mehr als alles andere am Herzen lag, war der Geist der Bewegung.“

Bernstein war laut dem – 1929 sogar im „Abend-Vorwärts“ (Nr. 438) veröffentlichten – letzten Willen von Engels als ein Testamentsvollstrecker eingesetzt worden. Beide lebten im Londoner Exil, nachdem Engels in der Zeit von Bismarcks Sozialistengesetz Bernstein als Chefredakteur des von der Schweiz nach Deutschland verbreiteten Exilorgans „Der Sozialdemokrat“ im Briefwechsel als Mentor begleitet hatte.

Anschaulich das frühindustrielle Elend skizziert

Was ist zum 200. Geburtstag von Engels noch besonders erinnerungswürdig? Engels hat in seiner materialreichen Studie „Die Lage der arbeitenden Klasse in England“ (1845) anschaulich das frühindustrielle Elend skizziert und angeprangert. In heutiger Lektüre wird deutlich, wie neben Hungerlöhnen und schlechten Arbeitsverhältnissen bei überlangen Arbeitszeiten auch gesundheitsschädliche Umweltbedingungen zum vorzeitigen Tod beitrugen: Engels beschrieb die „östliche und nordöstliche Seite von Manchester“ als dadurch benachteiligt, dass „der hier zehn oder elf Monate im Jahr herrschende West- und Südwestwind den Rauch aller Fabriken – und der ist nicht gering – stets nach dieser Seite hinübertreibt. Den können die Arbeiter allein einatmen.“ Und der „Irk“ sei dort „ein schmaler, pechschwarzer, stinkender Fluß“, wo am „Ufer eine lange Reihe der ekelhaftesten schwarzgrünen Schlammpfützen stehen, aus deren Tiefe fortwährend Blasen miasmatischer Gase aufsteigen und einen Geruch entwickeln, der selbst oben auf der Brücke, vierzig oder fünfzig Fuß über dem Wasserspiegel, noch unerträglich ist“.

Den Betroffenen solchen Elends galten aber Engels‘ Sympathien, wie er in der Vorrede mitteilte: „Kein Arbeiter in England – nebenbei gesagt, auch in Frankreich nicht – hat mich je als Ausländer behandelt“; man habe sich als „Angehörige der großen und internationalen Familie der Menschheit“ für eine bessere Zukunft zu solidarisieren. Insoweit sollte heute der Blick über relative Benachteiligungen in der eigenen Gesellschaft hinaus, die teilweise fortbestehen (Stichworte: Hartz IV, Niedriglohnsektor) trotz Überwindung des größten Elends durch sozialdemokratische und gewerkschaftliche Tätigkeit, auch in andere Länder der Welt mit noch immer menschenunwürdigen Lebensbedingungen gerichtet sein.

Von der Cholera-Epidemie zur Corona-Pandemie

Eine zweite Brücke von Alltagserfahrungen zur Gesellschaftskritik schlug Engels mit einer Schrift „Zur Wohnungsfrage“; sie ging aus einer Artikelserie von 1872/73 im Parteiorgan „Volksstaat“ hervor. Engels zeigte jenseits von fundamentalen Systemfragen eine nicht allein damals geltende Problemzuspitzung auf: „Was man heute unter Wohnungsnot versteht, ist die eigentümliche Verschärfung, die die schlechten Wohnungsverhältnisse der Arbeiter durch den plötzlichen Andrang der Bevölkerung nach den großen Städten erlitten haben … Und diese Wohnungsnot macht nur soviel von sich reden, weil sie sich nicht auf die Arbeiterklasse beschränkt, sondern auch das Kleinbürgertum mit betroffen hat.“

Erneut wies Engels auf ein krank machendes Lebensumfeld hin: „Cholera, Typhus und typhoide Fieber, Blattern und andre verheerende Krankheiten verbreiten in der verpesteten Luft und dem vergifteten Wasser dieser Arbeiterviertel ihre Keime“. Noch in der Cholera-Epidemie 1892 gab es in solchen ärmeren Quartieren Hamburgs mehr als 8000 Tote. Seither wurden große Fortschritte nicht zuletzt durch tatkräftiges Handeln „zukunftsbejahender“, progressiver Kräfte erreicht. Aber die Covid-19-Pandemie zeigt wie die globale Klimakrise neben dem augenfälligen Versagen rechtspopulistischer und neoliberaler Regierungen auch die erhöhten Lebensrisiken nicht nur in den unterbezahlten „systemrelevanten“ Berufen, sondern auch des beengten Wohnens in benachteiligten Stadtquartieren mit zu wenig Grünflächen im Nahbereich auf.

Alle Macht in die Hände des Volkes

Ein dritter Rückblick gilt Hinweisen von Engels an die Sozialdemokratie, seit das Sozialistengesetz aufgehoben war und sie ab Herbst 1890 den bis heute gültigen Namen trug (der mit SPD abgekürzt wird). Zum noch auf die selbstzerstörerischen Tendenzen des Kapitalismus setzenden Erfurter Programm von 1891 merkte Engels an, dass wenn schon nicht offen die Ablösung der preußisch-deutschen Monarchie durch eine Republik, dann wenigstens die „Konzentration aller politischen Macht in den Händen der Volksvertretung“ und die Beseitigung der „Kleinstaaterei“ gefordert werden müsse.

In einem häufig „politisches Testament“ genannten Vorwort zu einem älteren Text von Marx feierte Engels 1895 die Wahlerfolge der SPD (1893: 23,3 Prozent zum Reichstag). Er gab jedoch auch zu bedenken, dass von antidemokratischen herrschenden Kreisen mit gewaltsamem Widerstand gegen eine friedliche Machtübernahme durch bislang oppositionelle Kräfte zu rechnen war. So war 2020 nach der Revolution 1918/19 auch das 100. Jahr seit dem Kapp-Putsch gegen die Weimarer Demokratie, der nur mit Hilfe eines Generalstreiks abgewehrt werden konnte.

Schließlich: Warum sollten gerade die heutigen „Zukunftsbejahenden“ der SPD einen vor 125 Jahren verstorbenen Klassiker nicht vergessen? Zunächst ganz einfach: Nur wer die Gegenwart in der langfristigen Entwicklung zu begreifen versucht, weiß auch, dass heutige Gegenwart schon in der nächsten Generation zur Vergangenheit geworden sein wird. Deshalb fördert geschichtsbewusstes Denken ein in die Zukunft geöffnetes politisches Handeln mit gesellschaftsverändernden Perspektiven.

Zum Weiterlesen:
Detlef Lehnert / Christina Morina (Hg.): Friedrich Engels und die Sozialdemokratie, Werke und Wirkungen eines Europäers, Metropol-Verlag 2020, ISBN: 978-3-86331-554-2

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Autor*in
Detlef Lehnert

ist Professor für Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin und Mitglied im Geschichtsforum beim Parteivorstand der SPD.

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