150 Jahre „Internationale“: Ein Lied erobert die Welt
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Soziale Bewegungen, Revolutionen schaffen sich ihre Lieder. So war es in der Französischen Revolution und der deutschen 48er-Revolution. Auch die Pariser Kommune von 1871, der kurzlebige Versuch einer Arbeiterregierung, hinterließ uns einen fortblühenden Strauß an Gedichten und Liedern, in denen die Kommunarden ihre Hoffnungen ausdrückten. Die Niederschlagung der Kommune in der letzten Maiwoche 1871 und das brutale Gemetzel unter ihren Anhänger*innen durch die Truppen der III. Republik – bei Duldung durch die Paris umschließenden preußisch-deutschen Truppen – konnten das Fortwirken dieser Texte nicht verhindern, dafür sorgte die in Frankreich lebendige Chanson-Kultur.
Kaum eine Chansonette, kaum ein Chansonier, die/der nicht ein Lied der Kommune in ihr/sein Repertoire aufnahm. Les temps de cerises (Kirschenzeit) sangen und singen fast alle. In politikfernen Worten verspricht das Lied ein glückerfülltes Leben nach der Befreiung von Unterdrückung und Ausbeutung.
Aufforderung an die Kämpfer*innen der Zukunft
Ein anderer Stil prägt „Die Internationale“, die Eugène Pottier 1871 schrieb. Pottier – ein Mitglied des revolutionären Pariser Stadtrates – konnte Texte schreiben, aber nicht komponieren, so musste sein kämpferischer Text fast zwei Jahrzehnte warten, bis er eine Melodie erhielt, die seinem kämpferischen Geist aufnahm. Pottier hatte aus Paris fliehen können. Er schrieb den Text als Reaktion auf die Blutwoche der Pariser Kommune, die am 28. Mai endete.
Seine Erinnerung an die Tage der Kommune ist eine Aufforderung an die Kämpfer*innen der Zukunft, die zum Kampf aufstehen sollen, um in einem letzten Gefecht (C’est la lutte finale) das Reich der Freiheit zu erkämpfen. Als kämpfende Einheit sah Pottier die 1864 von Karl Marx gegründete Internationale Arbeiterassoziation, die spätere II. Internationale. Die Zeile In Stadt und Land ihr Arbeitsleute sind wir die stärkste der Parteien (Ouvriers, Paysans, nous sommes le grand parti des travailleurs) ist deutlich vom Prinzip Hoffnung bestimmt, denn diese Stärke erreichten die Arbeiterparteien erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts.
In der deutschen Arbeiterbewegung schnell populär
1888 vertonte Pierre Degeyter, Drechsler und Chormeister eine Arbeitergesangvereins in Lille den Text und eröffnete dem Lied seinen Siegeszug in der internationalen Arbeiterbewegung. Der wichtigste Auftritt erfolgte beim internationalen Sozialistenkongress in Kopenhagen 1910, bei dem die Teilnehmer zur gemeinsamen Melodie in ihren Landessprachen singen konnten, denn inzwischen waren zahlreiche Übersetzungen entstanden.
Eine wichtige Übersetzung stammte von Emil Luckhardt, der im Wuppertaler Arbeitergesangverein Proletaria sang. Luckhardt, der über den Besuch eines Gymnasiums über Französisch-Kenntnisse verfügte, nahm die Anregung seines Chorleiters auf und ihm gelang eine kongeniale Übersetzung. Im Unterschied zu bisherigen Übersetzungen wurde sie in der deutschen Arbeiterbewegung schnell populär.
Emil Luckhardt erlebte den großen Erfolg seiner Übersetzung nur kurze Zeit: Er fiel am 4. November 1914 in Frankreich. Wirtschaftlich profitierten zahlreiche Rechtehändler von Melodie und Text. Zum Schluss Hans R. Beierlein, der die Rechte aus dem Nachlass des 1933 verstorbenen Degeyter erworben hatte. Tantiemen für die Luckhardt-Übersetzung wurden ihm jedoch später verweigert, weil er den Erwerb dieser Rechte nicht nachweisen konnte.
Nie das Parteilied der SPD
Entgegen mancher Behauptung war die Internationale nie das SPD-Parteilied. Eine polemische Kritik von Wolf Biermann ist falsch: Die SPD hat die Internationale nie als Parteilied angesehen. Das Lied wurde viel gesungen, es war populär, aber ein Parteilied war sie nicht. Zum Abschluss ihrer Parteiversammlungen sang man im Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein (ADAV) das von Georg Herwegh auf Bitten von Ferdinand Lassalle geschriebene Bundeslied, von dem sich einige Zeilen einprägten: Alle Räder stehen still, wenn dein starker Arm es will.
Nach dem Zusammenschluss von ADAV und der von August Bebel und Wilhelm Liebknecht gegründeten Sozialistischen Arbeiterpartei zur SAPD 1875 endeten die Parteitage bis 1914 mit dem Gesang der ersten Strophe der Arbeiter-Marseillaise (Wohlan, wer Recht und Wahrheit achtet, zu unsrer Fahne steh allzuhauf!). In der Weimarer Republik wird der Sozialistenmarsch gesungen, letztmals auf dem Parteitag 1931 in Leipzig.
Was bei der SPD gesungen wurde
In den Rang eines Parteiliedes rückte in der wiedergegründeten SPD das Lied Brüder, zur Sonne, zur Freiheit ein, das der Dirigent Hermann Scherchen während des Ersten Weltkriegs in der russischen Internierung kennengelernt hatte. Er übersetzte den Text des russischen Revolutionärs Leonid Petrowitsch Radin und machte das Lied als Dirigent von Arbeiterchören populär. Der Parteitag in Hannover 1960 wechselte dann zu Wann wir schreiten Seit‘ an Seit‘. Der sanfte Text des in der Weimarer Zeit in der Sozialistischen Arbeiterjugend viel gesungenen Liedes entsprach mehr dem Stil der Godesberger SPD nach 1959. Die kämpferische Metaphorik ihrer Lied-Klassiker wirkte verloren in der neu aufgestellten Partei, die in der schrittweisen Veränderung der Gesellschaft ihr Ziel sah, nicht mehr in der heiligen, letzten Schlacht, von der die Lieder ihrer ersten 100 Jahre sangen.
Eine besondere Stellung besitzt die Internationale in den kommunistischen Parteien, die sie häufig als Parteilied ansehen. In der Sowjetunion war sie von 1918 bis 1943 Staatshymne, bis sie durch eine vaterländische Hymne ersetzt wurde. Gelegentliche Versuche den Text zu aktualisieren setzten sich nicht durch, so der Versuch des kommunistischen Autors F. C. Weiskopf: „Rot Front! Der Börsenjobber zittert, es wanken Geldschrank und Altar“, den das Liederbuch Unter roten Fahnen des Kommunistischen Jugendverbandes verzeichnet.
Die Internationale regte immer wieder zeitgenössische Komponisten zum Zitat an. Hanns Eisler zitiert sie in seiner als Reaktion auf die NS-Diktatur geschriebenen Deutschen Symphonie (1935-1939). Luigi Nono hat die Internationale mehrfach in seine Kompositionen eingebaut. Letztmals in Ein Gespenst geht um in der Welt (1971). Der britische Komponist John Ireland erhebt sie in seiner Kantate These Things Shall Be (1936/37) zum Hauptthema. In der Komposition Hymnen (1966) von Karlheinz Stockhausen wird sie neben 39 Hymnen verschiedener Länder zitiert.
war von 1975 bis 1976 Politikberater für die sozialistische Partei im revolutionären Portugal. Als Mitglied des Europäischen Parlamentes war er Vorsitzender des Ausschusses für den Beitritt Portugals zur Europäischen Gemeinschaft.