100 Jahre Freital: Beginn einer sozialen Utopie
In drei traditionellen Industriedörfern hatte die SPD, in Sachsen damals ohnehin sehr stark, nach dem Ersten Weltkrieg die absolute Mehrheit in den Kommunalparlamenten erringen können. Am 1. Oktober 1921 schlossen sich die drei Gemeinden Deuben, Döhlen und Potschappel zur Stadt Freital zusammen, um eine soziale Utopie zu verwirklichen: Freital sollte zu einer Stadt werden, die für ihre Bürger*innen die größtmögliche soziale Sicherheit und Freiheit garantiert.
Dazu wurden Kindergärten und Arztpraxen, Sportstätten, Bibliotheken und vieles mehr gegründet. All das war damals revolutionär. Selbst der Völkerbund, ein Vorläufer der UNO, wurde auf Freital aufmerksam. Die Weltwirtschaftskrise und später die Nationalsozialisten machten das Projekt zunichte. Die DDR hatte kein Interesse, an die Errungenschaften der SPD zu erinnern. Heute wissen selbst die Freitaler*innen nur noch sehr wenig über die sozialdemokratische Vergangenheit ihrer Stadt.
Christian Demuth, wieso braucht es eine Neuerzählung der Geschichte Freitals?
Die Geschichte von Freital wurde bislang immer als Niedergang der SPD erzählt. Das wollen wir ändern. Wir müssen die Geschichte der Menschen erzählen, die vor 100 Jahren versucht haben, das Leben vor Ort besser, gerechter und demokratischer für alle zu machen. Die SPD hat diese Bewegung damals organisiert. Sie hat dafür gesorgt, dass öffentliche Daseinsvorsorge für alle aufgebaut wurde. Und das ist auch heute die Aufgabe der SPD.
Warum wird diese Niedergangsgeschichte immer wieder erzählt?
Weil sie natürlich einerseits stimmt: Die DDR hat gerade in Sachsen sozialdemokratische Traditionen vernichtet oder pervertiert. Doch eine solche Analyse hat immer auch einen Westblick, denn im Osten engagieren sich insgesamt wenig Menschen in Parteien und in der Zivilgesellschaft. Freital ist kein Sonderfall. Gleichzeitig sehen wir, wie die AfD versucht, demokratische Erzählungen wie die von 1989 zu besetzen. Daher müssen wir eine neue sozialdemokratische Demokratiegeschichte erzählen, die in der Gemeinde und im Stadtteil ansetzt: Wir brauchen einen neuen demokratischen Aufbruch, einen Willy Brandt-Moment im Osten.
Was ist dabei die Chance der Sozialdemokratie, gerade in Sachsen?
Die Geschichte zeigt, dass mehr Beteiligung in sozialen Fragen zur Demokratisierung beiträgt. Und wir können es auch jetzt beobachten: Innerhalb der mittleren und jüngeren Generationen gibt es ein neues Gefühl von Selbstermächtigung: Es gab noch nie so viele Streiks und Proteste von Arbeiter*innen im Osten. Es gibt den Wunsch nach mehr Beteiligung vor Ort. Die sächsische Sozialministerin Petra Köpping plant mit dem neuen Haushalt die Förderung von „sozialen Orten“ und „Bürgerbudgets“. Ein Abbau des Sozialen und von Infrastruktur vor Ort wurde in der sächsischen Landesregierung von der SPD erfolgreich verhindert. Die Freitaler, aber vielleicht insgesamt die Ostdeutschen müssen ihre Orte neu erkämpfen, auch gegen Rechts.
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