Debatte

Zuwanderung: Warum eine offene Gesellschaft klare Regeln braucht

Einen Platz in unserer deutschen Gesellschaft finden nur jene, die unsere Grundwerte als verbindlich ansehen. Der Begriff „Leitkultur“ ist bei der Debatte über diese Grundwerte aber falsch gewählt – denn dabei richtet sich der Blick in die Vergangenheit, statt in die Zukunft. Gastbeitrag des SPD-Fraktionsvorsitzenden Thomas Oppermann.
von Thomas Oppermann · 17. Februar 2016

Als Rot-Grün unter Bundeskanzler Gerhard Schröder vor 15 Jahren begann, ein liberales Ausländerrecht und eine moderne Integrationspolitik zu entwerfen, haben die Konservativen unter Führung von Friedrich Merz die Deutsche Leitkultur gegen die multikulturelle Gesellschaft in Stellung gebracht. Auch wenn sie damit die rot-grünen Reformen abbremsen konnten: Am Ende mussten sie mit dem Konzept einer Deutschen Leitkultur scheitern.

Denn: Was ist deutsch in einem europäischen Land, in dem jeder fünfte Einwohner mindestens ein nicht in Deutschland geborenes Elternteil hat? Was ist typisch deutsch in einem Land, das sich der Globalisierung geöffnet und viele Impulse aus anderen Ländern und Kulturen aufgenommen hat? Kann man Menschen in einer freien Gesellschaft überhaupt eine bestimmte kulturelle Lebensweise vorschreiben? Die Antwort lautet eindeutig: Nein.

Offenheit bedeutet nicht Beliebigkeit

In Deutschland darf jeder so handeln und leben, wie er es für richtig hält, solange er dabei nicht die Rechte anderer oder die öffentliche Ordnung verletzt. Religiöser Glaube, politische Meinung oder sexuelle Präferenz – hier hat der Staat weder seinen Bürgern noch den Einwanderern etwas vorzuschreiben. In einer offenen Gesellschaft kann sich jeder mit seinen Vorstellungen vom Leben einbringen. Und eine offene Gesellschaft wird erst dadurch stark, dass es viele unterschiedliche Vorstellungen und Begabungen gibt.

Offenheit bedeutet aber nicht Beliebigkeit. Einen Platz in dieser Gesellschaft finden deshalb nur jene, die die Grundwerte unserer republikanischen und demokratischen Ordnung als verbindlich ansehen. Wer dauerhaft hier leben will, muss die deutsche Sprache lernen, für sich selbst Verantwortung übernehmen, die Rechte von Frauen und Kindern achten, auf Gewalt als Mittel der politischen Auseinandersetzung verzichten sowie Andersdenkende und Andersgläubige respektieren. Das sind die Leitplanken für ein freies und selbstbestimmtes Leben in Deutschland. Das darf und muss der Staat von allen Bürgern verlangen.

Lernen, mit Diversität umzugehen

Die meisten Flüchtlinge sehnen sich nach einem Leben in Freiheit, nach einem Leben ohne korrupte Verwaltungen, Terrormilizen oder religiöse Fanatiker. Davon hatten sie in ihrem Leben mehr als genug. Im Gegenzug muss die Gesellschaft akzeptieren, dass sich durch Einwanderung Kultur und Lebensgewohnheiten verändern und vielfältiger werden. Als Einwanderungsgesellschaft müssen wir lernen, mit dieser Diversität umzugehen. Auch das erfordert Toleranz. Aber nur wenn es gelingt, die Geltung gemeinsamer Regeln und Werte auch durchzusetzen, kann Diversität eine Chance und Bereicherung für unser Land sein.

Der große Unterschied zwischen einer konservativ geprägten Leitkultur-Debatte und dem, was wir Sozialdemokraten heute im Sinne eines guten Miteinanders von Flüchtlingen und Einwanderern fordern, besteht in der gedanklichen Richtung. Die ergibt sich schon aus der Begriffswahl. Wer von „Leitkultur“ spricht, schaut rückwärts und meint eine Kultur, die über Generationen gewachsen ist und an der sich Neuankömmlinge zu orientieren haben bis hin zur Assimilierung. Ich spreche dagegen lieber von „Leitbild“, also einer Vorstellung darüber, wie wir die gemeinsame Zukunft auf der Grundlage der oben genannten Werte gestalten. Deutschland wird sich verändern – wie übrigens jede andere Gesellschaft auch. Wir sollten uns dagegen weder durch Abschottung noch durch Gesinnungsvorschriften wehren, sondern an der Veränderung mit klarer Werteorientierung, Tatkraft und Optimismus mitwirken.

Autor*in
Thomas Oppermann

war von 2017 bis zu seinem Tod im Oktober 2020 Vizepräsident des Deutschen Bundestages.

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