Wie „schreiende Ungerechtigkeiten“ die Gesellschaft zerreißen
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Eigentlich ist unter Sozialdemokraten doch längst alles gesagt zum Thema Verteilungsgerechtigkeit. Dass eine Altenpflegerin rund 200 Jahre arbeiten müsste, um das zu verdienen, was sich ein Vorstand eines mittleren Dax-Unternehmens in einem Jahr gönnt, ist ohne Zweifel ungerecht. Ungerecht ist auch, dass die gleiche Altenpflegerin selbst nach 40 Berufsjahren möglicherweise keine Rente bekommen wird, die sie vor dem Gang zum Sozialamt bewahrt, da sich das Rentenniveau im Gleitflug befindet.
„Schreiende Ungerechtigkeit“
Fraglos ungerecht ist, dass sie überhaupt in diese Zwangsversicherung einzahlen und damit den vorgezogenen Ruhestand von Leuten finanzieren muss, die deutlich höheres Einkommen hatten und es sich deshalb leisten können, schon mit 63 aufzuhören. Ungerecht ist es, wenn die kleine Rente unserer Altenpflegerin später voll auf die Altersgrundsicherung angerechnet wird, und sie feststellen muss, dass sie nun genauso wenig hat, als hätte sie nie gearbeitet. Unverschämt wird es, sollte dann irgendein Klugscheißer sie auch noch darauf hinweisen, dass sie ja hätte „riestern“ können, staatlich gefördert, zu einer Zeit als sie ohnehin jeden Cent zweimal umdrehen musste und sich mühte, vielleicht noch etwas für ihr Kind beiseite zu legen.
Wir alle wissen um diese schreiende Ungerechtigkeit, die der Altenpflegerin widerfährt. Es ist die gleiche Ungerechtigkeit, die uns Arbeitnehmer mit bis zu 45 Prozent versteuern lässt, während Superreiche, die von ihren Kapitalerträgen, sprich: von der Arbeit anderer leben, mit 25 Prozent Abgeltungssteuer davon kommen. Und es ist die gleiche Ungerechtigkeit, die völlig unverdientes Einkommen durch Erbschaften schließlich so gut wie gar nicht mehr besteuert. Es ist nur die Kehrseite der Tatsache, dass in Deutschland nach wie vor Herkunft für die meisten zugleich Schicksal bedeutet – für (Sozial-)Demokraten und Menschen ohne Standesdünkel ein unerträglicher Umstand.
„Diese Gesellschaft fliegt auseinander“
Das alles ist nicht neu. Genauso wenig wie das Versagen der neoliberalen Verheißungen, wonach es irgendwann allen gut gehen wird, wenn wir nur ein gerüttelt Maß an Ungleichheit zu akzeptieren lernten, und unsere vermeintlichen „Leistungsträger“, Reiche und Superreiche nicht mit Umverteilungsdebatten quälten. Wir wissen mittlerweile: Diese Gesellschaft fliegt in Wirklichkeit geradezu auseinander. Wir haben – zumindest unter politisch sich als links verstehenden Kräften – weder ein Erkenntnisdefizit noch irgendwelche ethischen Zweifel. Wir wissen um die Verteilungsungerechtigkeiten in diesem Land, die nicht Ergebnis irgendeiner anonymen Globalisierung, sondern Resultat politischer Entscheidungen ist, die fälschlicherweise als vermeintlich alternativlos durchgesetzt wurden.
Wer jedoch Ungerechtigkeit als alternativlos hinnimmt, gibt sich politisch auf. Wir haben selbstverständlich die Möglichkeit, das Ruder herumzureißen. Wir können selbstverständlich für mehr Verteilungsgerechtigkeit und weniger Ungleichheit in dieser Gesellschaft sorgen. Die Stichworte und Konzepte aus dem Wahljahr 2013 gelten nach wie vor. Es geht um eine Erbschaftssteuer, die ihren Namen verdient, es geht um die Besteuerung sehr großer Vermögen und von Kapitaleinkünften, und es geht um die stärkere Heranziehung sehr hoher Einkommen zur Finanzierung dieses Sozialstaates. Doch braucht es dazu eine klare Linie, Konsequenz und den Mumm, Wahrheiten auszusprechen und sich auch mal mit dem einen oder anderen Vorteilsnehmer dieser Verteilungsungerechtigkeit anzulegen.