Debatte

Wie emanzipierte Männer Frauen vor Gewalt schützen

Vor allem in Beziehungen werden Frauen überproportional häufig Opfer von Gewalt. Eine gesellschaftliche Debatte findet darüber allerdings nicht statt. Um Frauen vor Übergriffen zu schützen, braucht es ein neues Rollenverständnis – auch der Männer.
von Sarah Clasen · 10. August 2017
Über Gewalt gegen Frauen wird nur selten gesprochen. Das Durchbrechen von Geschlechterstereotypen würde helfen.
Über Gewalt gegen Frauen wird nur selten gesprochen. Das Durchbrechen von Geschlechterstereotypen würde helfen.

Frauenquote in Führungspositionen, Elterngeld plus, Entgelttransparenzgesetz – die Liste an gesetzlichen Neuregelungen im Bereich Frauen- und Gleichstellungspolitik der noch amtierenden Bundesregierung ist lang. Ist die Gleichstellung aller Geschlechter damit erreicht? Weit gefehlt! Auch 2017 existiert eine andauernde Benachteiligung von Frauen in nahezu allen gesellschaftlichen Bereichen. Geld, Macht, Zeit und die Selbstbestimmung über den eigenen Körper sind zwischen den Geschlechtern höchst ungleich verteilt.

Vor allem Frauen werden Opfer ehelicher Gewalt

Am deutlichsten zeigen sich die gleichstellungspolitischen Defizite im Bereich Gewaltschutz von Frauen. Laut Bundeskriminalamt wurden im Jahr 2015 insgesamt 127.457 Personen Opfer von Gewalt in Paarbeziehungen, die über subtile Formen wie Demütigungen, Beleidigungen und Einschüchterungen, psychischen, physischen und sexuellen Misshandlungen bis hin zu Vergewaltigungen und Tötungen reicht. Knapp 82 Prozent der Gewaltbetroffenen sind Frauen. Das sind mehr als 104.000 Frauen, die von Partnerschaftsgewalt betroffen waren.

Beziffert wird damit nur das sogenannte Hellfeld, d.h. jener Ausschnitt von Gewalt im sozialen Nahraum, der offiziell bekannt und registriert wird. Demgegenüber zeigen Studien, dass mindestens jede dritte Frau in Deutschland ab dem 16. Lebensjahr im Laufe ihres Lebens körperliche Gewalt und Übergriffe und fast jede siebte Frau Formen von sexualisierter Gewalt erlebt. Jede zwanzigste ist vergewaltigt worden.

Gewalt gegen Frauen wird kaum diskutiert

Darüber hinaus sind Frauen mit Behinderungen und Beeinträchtigungen im Lebensverlauf allen Formen von Gewalt deutlich häufiger ausgesetzt als Frauen im Bevölkerungsdurchschnitt und machen erheblich häufiger fortgesetzte und multiple Gewalterfahrungen. Menschen, die sich jenseits der Kategorien Mann/Frau verorten, sind ebenfalls deutlich von Diskriminierung und Gewalt betroffen.

Diese deutlichen Zahlen im Blick erstaunt es, dass das Thema Gewalt gegen Frauen nicht Gegenstand breiter öffentlicher Debatten ist, nicht mit breiten Kampagnen dazu aufgerufen wird, diese Menschenrechtsverletzung endlich zu beenden. Die alltägliche Gewalt ist ebenso wie die Bereitschaft der Gesellschaft, darüber hinwegzusehen, Ausdruck davon, dass Sexismus ein strukturelles und interaktionelles Problem unserer Gesellschaft ist, das angegangen werden muss. Gesellschaften, in denen Frauen nicht vor Gewalt geschützt werden und keine Selbstbestimmung über ihren Körper haben, werden keine Geschlechtergerechtigkeit erreichen.

Gewalt gegen Frauen ist keine Frage der Herkunft

Was ist also zu tun? Zentral für die Überwindung geschlechtsspezifischer Gewalt ist vor allem die Auseinandersetzung mit den gesellschaftlich fest verankerten Vorstellungen von Männlichkeit und der Rolle, die Gewalt im Geschlechterverhältnis spielt. Der durch die mediale Berichterstattung über die Ereignisse in Köln in der Silvesternacht 2015/2016 neu erwachte Reflex, Gewalt gegen Frauen nur „den anderen“ zuzuschreiben, muss entschieden zurückgewiesen werden.

Gewalt gegen Frauen findet hier und jetzt und überall statt und ist keine Frage der Herkunft. Mehr als 70 Prozent der erfassten Tatverdächtigen von Partnerschaftsgewalt sind deutsche Staatsangehörige. Starre stereotype Rollenzuweisungen a la „ein richtiger Junge weint nicht“ müssen endlich überwunden werden. Die Lektüre von Jack Urwins Buch „Boys don’t cry“ kann hier gute Anregungen geben.

Wie Gesetze helfen könnten

Gleichstellungspolitik braucht frauenspezifische Politik und emanzipative Männerpolitik, die gewaltfreie, fürsorgende und partnerschaftliche Leitbilder von Männlichkeit entwickelt. Um Schutz, Zuflucht und Beratung in Frauenhäusern und Fachberatungsstellen verlässlich sicherstellen zu können, braucht es weiterhin in Deutschland endlich ein Bundesgesetz, das den individuellen Rechtsanspruch für Frauen und ihre Kinder auf Schutz und Hilfe bei geschlechtsspezifischer Gewalt unabhängig von Einkommen, Aufenthaltstitel, Herkunftsort, gesundheitlichen Beeinträchtigungen oder Behinderungen regelt. Selbstverständlich müssen diese Hilfestrukturen einzelfallunabhängig, bedarfsgerecht und verlässlich finanziert sein.

Autor*in
Sarah Clasen

ist Referentin für Frauen und Gleichstellung beim AWO-Bundesverband.

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