Was wäre, wenn Willy Brandt im Mittelmeer ertrunken wäre?
Man stelle sich eine sozialdemokratische Nachkriegszeit ohne Erich Ollenhauer vor. Ein Berlin ohne Ernst Reuter. Oder eine deutsche Geschichte ohne Willy Brandts Kniefall in Warschau. Kaum auszumalen, wie arm unsere sozialdemokratische Familie wäre, hätten diese Flüchtlinge keinen Schutz außerhalb Nazi-Deutschlands bekommen. Oder wären sie auf der Suche nach Schutz ertrunken. Im weiten Meer beerdigt, ohne dass jemals jemand Notiz von ihren Namen genommen hätte.
Wir können froh sein, dass diese Sozialdemokraten Schutz im Ausland gefunden haben. Den zig tausenden Flüchtlingen, die in den letzten 20 Jahren im Mittelmeer umgekommen sind, ist es leider nicht so ergangen.
Als Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten sind wir gerade aus dieser Verantwortung heraus besonders wachsam, wenn es um die Flüchtlingspolitik geht. Als Arbeitsgemeinschaft Migration und Vielfalt eventuell sogar einen Tick stärker, weil wir die anonymen Schicksale öfter als andere nicht nur aus den Nachrichten kennen, sondern aus den persönlichen Gesprächen, aber auch durch Mitstreiterinnen und Mitstreiter, die selbst als Flüchtlinge nach Deutschland gekommen sind.
Europäische Flüchtlingspolitik vom Kopf auf die Füße stellen
Während viele Kommunen – gerade die sozialdemokratisch geführten – sich ihrer Verantwortung mit einem beeindruckenden Engagement und in Zusammenarbeit mit einer anpackenden Zivilgesellschaft stellen, wünscht man sich ein beherztes Zugreifen auf Bundes- und Europaebene. Deutschland muss sein Gewicht in die Waagschale werfen, um die europäische Flüchtlingspolitik vom Kopf auf die Füße zu stellen. Deshalb fordern wir als AG u.a. folgende fünf Punkte:
- Kurzfristig muss die Rettung von Menschenleben oberste Priorität haben und nicht der der Schutz von Zäunen. Das bedeutet auch, dass eine Militarisierung der Flüchtlingspolitik, die die Gefährdung von Menschenleben in sich birgt, kein Weg für den Friedensnobelpreisträger EU ist.
- Es braucht sichere Wege nach Europa. Diese Forderung darf nicht abstrakt und halbherzig bleiben. Wenn der Libanon mehr als eine Million Menschen und damit ca. ein Viertel der eigenen Bevölkerung aufnimmt, dann muss unser wohlhabendes Europa mit seinen über 500 Mio. Einwohnerinnen und Einwohnern von Hunderttausenden sprechen, denen man im Rahmen eines Aufnahmeprogramms Perspektiven gibt.
- Die Dublin Verordnung hat vollkommen versagt. Und das sehen mittlerweile auch Unionspolitiker so. Es braucht einen Verteilmechanismus, der vom solidarischen Gedanken getragen ist und die Wünsche der Flüchtlinge berücksichtigt, wenn z.B. familiäre oder andere Bindungen zu möglichen Wunschländern bestehen.
- Vor einem gerechten Verteilmechanismus steht die Harmonisierung der Mindeststandards für Flüchtlinge in Europa. Es ist beschämend, wenn Flüchtlinge auf der Straße landen, weil einige Länder die Abschreckung von Flüchtling zu perfektionieren versuchen.
- Zu dieser Harmonisierung gehört auch die Angleichung der Anerkennungsquoten. Bist du ein Geflüchteter aus Afghanistan ist die Schutzquote in Italien bei 91% und in Griechenland gerade mal bei elf Prozent. Das Recht auf Asyl darf nicht einer Lotterie gleichen.
Schicksale in den Fokus rücken
In Deutschland gilt es nach einigen hart erkämpften Reformen, Rückschritte zu verhindern. Die Union scheint in der Flüchtlingspolitik nur eine Richtung zu kennen: schneller abschieben. Die Sozialdemokratie muss an dieser Stelle standhaft für faire Verfahren kämpfen. Und Fluchtgründe sind wahrlich keine Angelegenheiten, die man mal schnell aus dem Bauch entscheiden kann. Dass Länder wie Mazedonien als sichere Herkunftsstaaten definiert werden, ist mit der Realität schwer in Einklang zu bringen, wo die Zustände im Land doch eher einem Bürgerkrieg ähneln.
Das Ziel, früh Perspektiven zu klären, ist dagegen ganz im Sinne der geflüchteten Menschen. Nichts ist schlimmer als die ständige Unsicherheit. Wir sollten aber den Spieß umdrehen. Wenn es schnell gehen soll, dann bei den Fällen, wo die Anerkennungsquoten so hoch sind, dass quasi jede Person als Flüchtling anerkannt wird. Die Schutzquote von Geflüchteten aus Eritrea beispielsweise liegt bei 99 Prozent, zieht man die „formell erledigten“ Fälle ab. Wieso nicht bei diesen Gruppen mit einer Schnellprüfung den Flüchtlingsstatus anerkennen? So könnte man das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge entlasten.
In Rahmen dieser Debatte auf vorwärts.de wurde über viele wichtige Aspekte diskutiert: über die europäische Flüchtlingspolitik, über Fluchtgründe, über das Geschäftsmodell der Schleuser, über das Kirchenasyl, eine Willkommenskultur und Flüchtlings-Patenschaften. Das zeigt, dass die Sozialdemokratie sich ihrer Geschichte und der Biografien ihrer eigenen Flüchtlinge bewusst ist. Wenn das anderen politischen Akteuren nicht der Fall sein sollte, dann sind wir gefragt, die Realitäten zurechtzurücken und die Schicksale in den Fokus zu schieben. Denn wer weiß schon, welcher dieser Flüchtlinge der nächste Brandt, Reuter oder Ollenhauer sein könnte.