Was der SPD im Kampf für mehr soziale Gerechtigkeit fehlt
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Gerechtigkeit dient Menschen als moralischer Kompass für die Gesellschaftsentwicklung, als normativer Fixpunkt und als Messlatte zur Bestimmung des Ausmaßes sozialer Ungleichheit in einem Land. Je nachdem, welcher Gerechtigkeitsbegriff vorherrscht, lässt sich die Kluft zwischen Arm und Reich politisch legitimieren oder skandalisieren. Mit den Reformen zum „Um-“ bzw. Abbau des Sozialstaates häuften sich daher auch Bemühungen, die Gerechtigkeitsvorstellungen zu verändern und den Leitwert der Solidarität durch die Forderung nach mehr Privatinitiative, Selbstvorsorge und Eigenverantwortung zu ersetzen.
Soziale Gerechtigkeit ist wieder ein Thema
Der Neoliberalismus, ursprünglich eine Wirtschaftstheorie, avancierte spätestens um die Jahrtausendwende zu einer Sozialphilosophie, ja zu einer politischen Zivilreligion, die alle Poren der Gesellschaft durchdrang. Der seinerzeit vorherrschende Gerechtigkeitsbegriff wurde in dreifacher Hinsicht transformiert: von der Bedarfs- zur „Leistungsgerechtigkeit“, von der Verteilungs- zur „Teilhabegerechtigkeit“ und von der sozialen zur „Generationengerechtigkeit“.
Aufgrund der sich zuspitzenden sozialen Ungleichheit erfährt die Debatte über Fragen der sozialen Gerechtigkeit in jüngster Zeit jedoch eine Renaissance. Parteien veranstalten „Gerechtigkeitskongresse“, Wohlfahrtsverbände, Gewerkschaften und Religionsgemeinschaften widmen sich demselben Themenkreis. Offenbar machen die als „Rückkehr der sozialen Frage“ bezeichneten Folgen einer kaum mehr übersehbaren Arm-reich-Polarisierung zwischen den wie innerhalb der einzelnen Gesellschaften eine Rückbesinnung auf Solidarität und soziale Gerechtigkeit erforderlich.
Soziale Gerechtigkeit: SPD fehlt die politische Glaubwürdigkeit
Was der SPD seit Gerhard Schröders „Agenda 2010“ und den Hartz-Gesetzen am meisten fehlt, ist Glaubwürdigkeit im Hinblick auf ihre Schlüsselkompetenz, die Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit. Die sozialdemokratischen Grundwerte, die hehre Programmatik und die (Regierungs-)Praxis der Partei gelangen nicht mehr zur Deckung.
Unglaubwürdig erscheint die SPD selbst Wohlmeinenden etwa deshalb, weil ihr Vizekanzler und Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel am 18. Juni 2016 im Spiegel unter dem Titel „Im Schafspelz“ von „wachsender und verfestigter Ungleichheit“ in der Gesellschaft sprach, aber nur zwei Tage später mit Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) und dem bayerischen Ministerpräsidenten Horst Seehofer (CSU) einen Kompromiss zur Erbschaftsteuerreform für Firmenerben schloss, der dafür sorgen dürfte, dass sich die großen Vermögen hierzulande auch künftig wenigen Unternehmerfamilien konzentrieren. Wer in Regierungsämtern für Reichtumsförderung statt Armutsbekämpfung steht, dem traut kaum jemand mehr zu, dass er die Interessen der sozial Benachteiligten vertritt.
Haltung zur Linken: Meinungspluralismus oder Doppelzüngigkeit?
Widersprüchlich, wenn nicht doppelzüngig wirkte, dass der SPD-Vorsitzende an gleicher Stelle ein „Bündnis der progressiven Kräfte“ anregte und die „Mitte-links-Parteien“ mahnte, „ihren notorischen Missmut, ihre Eitelkeiten und Spaltungen“ zu überwinden, weil „progessive Parteien und Bewegungen“ auch in Deutschland „füreinander bündnisbereit und miteinander regierungsfähig“ sein müssten, während seine Stellvertreterin Hannelore Kraft vier Tage später eine Koalition mit der Partei Die Linke, die sie kurzerhand für „weder regierungswillig noch regierungsfähig“ erklärte, nach der nordrhein-westfälischen Landtagswahl im Mai 2017 kategorisch ausschloss.
Michael Gottschalk
hat bis 2016 Politikwissenschaft an der Universität zu Köln gelehrt und kürzlich das Buch „Die zerrissene Republik. Wirtschaftliche, soziale und politische Ungleichheit in Deutschland“ veröffentlicht.