Warum Liquid Democracy nicht zur Willensbildung in einer Partei taugt
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Ab Mai werden die Piraten in keinem Landesparlament mehr vertreten sein. Mit ihnen ist das Konzept der Liquid Democracy aus dem öffentlichen Diskurs verschwunden. Dennoch lohnt die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Beteiligungsversprechen der Piratenpartei. Welche Lehren können wir aus den bisherigen Erfahrungen ziehen? Wie könnte eine zukunftsfähige Version umfassender Mitgliederbeteiligung aussehen?
Selbst die Piraten nutzten Liquid Democracy kaum
Bei den Piraten wurde Liquid Democracy als Konzept für die innerparteiliche Demokratie online mithilfe der Software „LiquidFeedback“ erprobt. Liquid Democracy ist ein Mix aus repräsentativer und direkter Demokratie, bei dem sich jedes Parteimitglied je nach Abstimmung sein individuell zugeschnittenes System der Mitbestimmung basteln kann. Die eigene Stimme kann generell oder in einigen Fragen an einen oder auch unterschiedliche Stellvertreter delegiert werden. Jedes Parteimitglied kann sein Stimmrecht ebenso in jeder Frage selbst wahrnehmen. Von der Erstellung bis zur Abstimmung durchläuft jede Initiative einen mehrphasigen Diskussionsprozess. Jeder kann Vorschläge einbringen und bestehende Vorschläge kommentieren. Deshalb wird das Konzept der Liquid Democracy demokratietheoretisch als eine Form der deliberativen Demokratie verortet, also eine Art der Beteiligung, bei der die öffentliche Debatte im Mittelpunkt steht.
Die Politologen Bastian Bullwinkel und Lothar Probst zeigen anhand der Piraten-Landesverbände NRW und Berlin, dass mit Beteiligungsquoten von 0,6 bis 5,1 Prozent (d.h. 37 bis 137 Mitgliedern) die Chance zur direkten Partizipation von der Basis kaum genutzt wurde und sich darüber hinaus Landesverband und Landtagsfraktion in drei der vier untersuchten Fälle über die Entscheidung der Basis hinwegsetzen. Ausflüchte, dass Parteien generell über einen großen Teil inaktiver Mitglieder verfügen, taugen hier nicht als Erklärung. Laut der deutschen Parteimitgliederstudie stufen sich im parteiübergreifenden Vergleich nämlich sechs Prozent der Mitglieder als sehr und immerhin noch 21 Prozent als ziemlich aktiv ein.
Renter, Hausfrauen und Studenten dominieren den Diskurs
Nicht nur die Empirie lässt an der Praxistauglichkeit der Liquid Democracy zweifeln. Der Einsatz von LiquidFeedback führt zu einer sozialen Verzerrung, da „Offliner“ (Alte und sozial Schwache) ausgeschlossen sind. LiquidFeedback-Beschlüsse verpuffen wirkungslos, denn die Parlamentsfraktion ist nicht an sie gebunden, da ein imperatives Mandat dem Prinzip des freien Mandats widerspricht. Informiert abzustimmen und Anträge einzubringen ist zeitaufwändig. Es besteht – überspitzt formuliert – die Gefahr, dass der Diskurs von Rentnern, Studenten sowie Hausfrauen/ -männern dominiert wird. Niemand kann Experte in allen Themengebieten sein – aus gutem Grund arbeiten Parlamentsfraktionen arbeitsteilig.
Die Position der Partei zu einem Thema könnte sich in der „flüssigen Demokratie“ von einem Tag auf den nächsten verändern. Inwieweit ist eine Partei unter solchen Umständen überhaupt koalitions- oder regierungsfähig? Ein repräsentatives System bietet den klaren Vorteil, dass die Repräsentanten denjenigen gegenüber, die sie gewählt haben, verantwortlich sind. Im LiquidFeedback besteht durch die pseudonyme Teilnahme das Problem, dass die Identität des Delegationsempfängers unter Umständen gar nicht bekannt ist.
Strategischer Vorteil für die SPD
Die bereits zitierte Parteimitgliederstudie zeigt auch: Parteimitglieder wünschen sich vor allem bei Personalentscheidungen und weniger in konkreten Sachfragen mehr direkte Mitbestimmung. Hier hat die SPD z.B. in ihren Parteireformen 1993 und 2011 die Möglichkeit zur Urwahl in Sach- und Personalfragen in der Satzung verankert. Ein weiterer Schritt wäre, die Aufstellung der Direktkandidaten für die Parlamente in allen Landesverbänden konsequent in die Hände der Mitglieder zu legen.
Während sich die CSU zu diesem Zeitpunkt noch nicht zur Unterstützung Merkels erneuter Kanzlerkandidatur hatte durchringen können, gelang der SPD am 24. Januar mit der Kür von Martin Schulz ein fulminanter Überraschungscoup. Für die Zukunft hat man noch eine weitere Trumpfkarte gegenüber der Union in der Hand: Die Urwahl des Kanzlerkandidaten. Sie bietet die Chance, schon weit vor der heißen Wahlkampfphase die Aufmerksamkeit der Medien auf Kandidat und Programm zu lenken und die eigenen Mitglieder für den anstehenden Wahlkampf zu mobilisieren. Die SPD hat hier einen strategischen Vorteil. Man stelle sich eine solche Urwahl bei der Union vor: entweder halten die Schwesterparteien ihre jeweils eigenen Urwahlen – mit möglicherweise konträren Ergebnissen – ab oder die Stimmen der CSU-Mitglieder werden in der Unions-Urwahl wie ein 16. CDU-Landesverband gewertet. Zwist zwischen den Schwestern wäre vorprogrammiert.
ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Politische Wissenschaft und Soziologie der Universität Bonn.