Warum Gewinnstreben und Fürsorge in der Pflege unvereinbar sind
Therapeutische Empfehlungen setzen präzise Diagnostik voraus. Beginnen wir also mit einer sehr knappen Problembeschreibung. Die sich gegenwärtig zuspitzende, wissenschaftlich bereits vor Jahrzehnten prognostizierte Krise pflegerischer Versorgung lässt sich bis in die 1980er Jahre zurückverfolgen. Sie lässt sich zum einen als Ausdruck verschärfter Verteilungskonflikte im Krankenhaus etwa mit Einführung des DRG-Systems (Diagnosis Related Groups) beschreiben. Eine Erlössteigerung in der Krankenbehandlung sollte durch Zuwachs von Arztstellen bei gleichzeitig überproportionalem Abbau von Pflegepersonal erzielt werden. Die dadurch verursachte höhere berufliche Belastung der Pflege wurde durch Verringerung der Krankenhausverweildauer noch verschärft.
Kostendämpfung mit weitreichenden Folgen
Die Krise pflegerischer Versorgung stellt sich des Weiteren im Bereich der stationären Langzeitversorgung vor allem älterer pflegebedürftiger Menschen sehr drastisch dar. Die Einführung der sozialen Pflegeversicherung wurde begleitet von einer politischen Weichenstellung zugunsten marktwirtschaftlicher Prinzipien. Durch Konkurrenz verschiedener Anbieter sowohl ambulanter als auch stationärer Leistungen sollte die Kostenentwicklung gedämpft werden.
Damit wurden Grundkonflikte von erheblicher Tragweite heraufbeschworen: Pflegeinstitutionen sollen gemäß betriebswirtschaftlicher Prinzipien der Effizienz organisiert und gemäß konkurrenzwirtschaftlicher Prinzipen möglichst geringer Kosten am Markt platziert werden. Durch Zusammenballung von Pflegeeinrichtungen quasi zu Großkonzernen können zusätzliche Gewinne erzielt werden. Die Ausdehnung dieser politisch gewollten marktwirtschaftlichen Logik ist jedoch unvereinbar mit einer eigensinnigen Logik humaner Dienstleistungen (Pflege), das heißt mit den Prinzipien zwischenmenschlicher Solidarität, der Förderung des Wohlergehens und der Fürsorge.
Innerseelische Zerreißung der Pflegekräfte
Diese Unvereinbarkeit wirkt sich buchstäblich als innerseelische, moralische und auch physische „Zerreißung“ von Pflegekräften aus und zählt zu den entscheidenden Gründen der Berufsflucht. Bereits während ihrer pflegeberuflichen Ausbildung erwägen 20-30 Prozent befragter Schüler und Schülerinnen, max. fünf Jahre oder gar nicht in ihrem Ausbildungsberuf tätig zu sein.
Eine analytisch hinreichende Ursachenforschung wird den sich verschärfenden „Pflegenotstand“ allerdings als Teil einer umfassenderen gesellschaftlichen Krise in den Blick zu nehmen haben. Dabei handelt es sich nicht nur um das Resultat eines politisch zu Lasten der Pflegeberufe entschiedenen gesellschaftlichen Verteilungskonflikts. Der „Pflegenotstand“ ist zwar auch, aber nicht allein Ausdruck einer sogenannten Gratifikationskrise, die durch bessere finanzielle Vergütung gelöst werden könnte.
Motivation und Anerkennung werden ausgehöhlt
Gegenwärtige Krisenphänomene sind ursächlich viel tiefer verankert. Soziologisch gesprochen wirken sich die dynamischen Kräfte moderner (kapitalistischer) Gesellschaften dahingehend aus, in steigendem Maße Humandienstleistungsberufe, d.h. Berufe, die auf Reproduktion lebenswichtiger Funktionen ausgerichtet sind, sachfremden Zielen zu unterwerfen („Kolonialisierung“). Auf diese Weise werden bestandswichtige kulturelle Grundlagen dieser Berufe: Motivationen, Grundeinstellungen, biografische Ziele, Anerkennung, buchstäblich unterspült.
Die Frage, was sich in der Pflege ändern muss, ist daher differenziert zu beantworten. Auf globalpolitischer Ebene sind Richtungsentscheidungen (marktwirtschaftliche Öffnung ohne effektive politische Kontrolle) aufgrund erheblicher dysfunktionaler Wirkungen zurückzunehmen. Eine realistische Aussicht darauf, den Fachkräftemangel beheben zu können, setzt tiefgreifende Veränderungen in den kulturellen Grundlage moderner Gesellschaften voraus: eine gleichförmige gesellschaftliche Wertschätzung wirtschaftlicher Produktivität ebenso wie sozialer Reproduktivität.
Gesellschaftliches Umdenken nötig
Eine echte Leistungsentschädigung von Pflege drückt sich gewiss auch monetär aus, setzt aber fundamental gesellschaftliches Umdenken voraus. Nicht unwahrscheinlich ist, dass zunehmende Erfahrungen unzureichender pflegerischer Versorgung von Angehörigen oder Freunden einen politischen Mobilisierungseffekt vor allem auf kommunaler Ebene erzeugen.
Vieles hängt aber von den Pflegeberufen selbst ab, von ihrer Bereitschaft und dem Willen, für Veränderungen der Bedingungen ihrer Arbeit zu kämpfen. Zur Professionalität sozialer und gesundheitsbezogener Berufe gehört die Wahrnehmung eines „doppelten Mandats“, d.h. eines zweiseitig ausgerichteten Verantwortungsverhältnisses: Schutz und Förderung Anbefohlener ebenso wie Erhalt und Verbesserung eigener Leistungsfähigkeit.
Konsequenzen für die berufliche Bildung
Daraus ergeben sich Konsequenzen bspw. für die berufliche Bildung: aufklärerischer und selbstkritischer Umgang mit bestandswichtigen, aber auch riskanten altruistischen Motiven und Einstellungen; selbstbewusster, offensiver Umgang mit innerbetrieblichen Widersprüchen und Konflikten. Eigentlich befinden sich Pflegefachkräfte in einer „komfortablen“ Situation: Aus der Tatsache, dringend gebraucht zu werden, ließen sich berufspolitische Funken im Sinne durchsetzbarer Gestaltungsoptionen schlagen. Dem steht leider der geringe berufspolitische Organisationsgrad entgegen.
ist Professor am Institut für Gesundheitsforschung und Bildung der Universität Osnabrück.