Debatte

Warum Europa mehr Abrüstung und Rüstungskontrolle braucht

Wachsende Spannungen und Konflikte mit Russland zeigen: Europa braucht dringend eine Ordnung kooperativer militärischer Sicherheit. Leider wurde die Expertise, etwa im Bereich der Rüstungskontrollforschung, in Deutschland auf nahe Null zurückgefahren. Das ist brandgefährlich.
von Jochen Luhmann · 16. Dezember 2016
Militärparade in Moskau mit Präsident Putin (m.): Europa braucht mehr Rüstungskontrolle
Militärparade in Moskau mit Präsident Putin (m.): Europa braucht mehr Rüstungskontrolle

Ein Blick auf die Kräfteverhältnisse zeigt: Für Russland (150 Mio. Einwohner; sinkend) relevant sind die Politik der USA (320 Mio. Einwohner; stark steigend), der NATO und der EU (510 Mio. Einwohner; leicht steigend). Anstöße für eine „neue deutsche Ostpolitik“ in der Tradition Willy Brandts haben von dieser Konstellation auszugehen. Bei der Suche nach einer spezifischen Rolle Deutschlands geht es deshalb immer auch um eine Suche nach einem Ansatzpunkt für den berühmten Hebel, der mit geringer Kraftausübung große Kugeln zu bewegen vermag.

Russland muss Europas Sicherheitspartner werden

Russland ist eine hochgerüstete Nuklearmacht. Es hat außer Waffen, Rohstoffen und Kultur wenig an ‚assets’ im internationalen Machtwettbewerb vorzuweisen. Russlands längerfristige wirtschaftliche Perspektive ist düster, nicht nur der traditionell schon recht geringen Produktivität wegen, sondern auch, weil der Fahrplan der internationalen (Klima-)Politik auf die Entwertung der fossilen Rohstoffe gerichtet ist. Russland wird zudem auf internationaler Bühne allseits gemobbt – und ist damit brandgefährlich. Über allem aber steht die politisch unveränderliche Geographie: Russland gehört zu Europa, dem hiesigen Sicherheitsraum. Russland hat unser, EU-Europas, Sicherheitspartner zu werden.

Aus dieser Konstellation ergibt sich für die deutsche und europäische Ostpolitik: Es hat nicht allein um positive Ziele in etlichen Dimensionen des bilateralen Verhältnisses zu gehen. Entscheidend ist die negative Randbedingung, die es in den wirtschaftlichen Krisen und innenpolitisch prekären Phasen, die auf Russland zukommen werden, zu bewahren gilt, als Staatsraison: Dass es nicht zu einer militärischen Auseinandersetzung im Großen kommt, die zum nuklearen Krieg eskalieren könnte. „Frieden“ mit Russland ist demgegenüber etwas ganz anderes.

Charta von Paris ist unerfüllter Auftrag

Wir benötigen – unverändert – die Erarbeitung einer Ordnung kooperativer einschließlich militärischer Sicherheit in Europa, wie einstmals nach 1945, als Ausfluss der beiden kriegerischen Katastrophen zuvor, in Art. 24 Abs. 2 GG mandatiert und nach 1990 in der Charta von Paris verabredet. Allerdings: die Charta ist lediglich ein Auftrag, sie ist nicht bereits diese Sicherheitsarchitektur.

Das Problem mit der deutschen politischen Öffentlichkeit, auch in der sicherheitspolitischen Experten-Community, ist, dass man sich mit abstrakten Formulierungen begnügt, weil fast niemand mehr weiss, was mit dem unerledigten Auftrag konkret gemeint sein könnte. Dazu bei trägt, dass die militärische Expertise im hiesigen öffentlichen Diskurs zu sicherheitspolitischen Fragen auf nahe Null zurückgefahren worden ist und weiter wird. Das gilt insbesondere für den Bereich der Rüstungskontrollforschung, die einst zur Kernexpertise deutscher Außen- und Sicherheitspolitik gehörte. In Russland ist das übrigens kaum anders. Es ist so, als ob man eine komplexe sowie gefährliche beidseitige Apparatur errichtet hat – nun sterben die Experten zur Wartung und Bedienung weg und die nächste Generation politischer Führung steht kenntnisarm mit dem gefährlichen Spielzeug in der Hand da.

Gemeinsame Sicherheit statt Faustrecht

Das Gegenteil, nicht-kooperative Sicherheit, gemäß Art. 87 a GG, welcher 1956/58 als Mandat für die NATO eingefügt wurde, ist ein Konzept, das aus dem Faustrecht stammt – die Begriffe dafür sind „Verteidigung“ und „Abschreckung“ oder gar „Vorne-Verteidigung“. Verstörend ist, dass bei uns so etwas Atavistisches öffentlich als (Allein-)‚Lösung’ akzeptiert ist. Wie ist das möglich?

Zu den Gründen gehört vermutlich die erwähnte geringe Substanz an Vorstellungen davon, was eine Ordnung kooperativer, auch militärischer, Sicherheit in Europa konkret sein mag. Was dazu zwischen Russland und dem Westen bereits im Bereich konventioneller Streitkräfte einmal ausgearbeitet, auch umgesetzt, im November 1999 in Istanbul als AKSE paraphiert wurde, steht uns nicht vor Augen. In letzter Sekunde wurde es vom Westen, unter Führung des neu ins Amt gelangten US-Präsidenten Bush jr., aufgekündigt – mit der so substantiellen wie vertrauenerweckenden Begründung ‚Nein, doch nicht!’. Der Westen bräuchte sich nur entscheiden für das Konzept „kooperative Sicherheit“ – und dann vorschlagen, das bis 1999 Erreichte, mit einigen Aktualisierungen natürlich, neu zu beleben.

Deutsche Sicherheitskompetenzen verbessern

Will die deutsche Sozialdemokratie in diesem Sinne antreten, dann hat sie für die nächste Legislatur strukturell eine stärkere interministerielle Vernetzung anzustreben, damit militärisch gefüllte Konzepte kooperativer Sicherheit in Europa ausgearbeitet werden können – ohne solche Kapazitäten bleiben alle Worte nur nette Glaubensbekenntnisse, ohne praktische Relevanz. Gegenwärtig werden Rüstungskontrolle und kooperative Sicherheitspolitik federführend im Auswärtigen Amt betrieben. Dessen Potential wird nicht reichen, es braucht ergänzend eine zielgerichtete Zuarbeit aus der akademischen sicherheitspolitischen Community, auch neue Kapazitäten, ergänzend möglicherweise in Kooperationsformen, die die neuausgebildeten Blockgegensätze bereits transzendieren. Der Bundestag mit seinem Unterausschuss Rüstungskontrolle und Abrüstung, unter dem Auswärtigen Ausschuss, ist bislang etwas unterbelichtet und bedürfte ebenfalls einer institutionellen Innovation, um der im Februar 2014 hereingebrochenen existentiellen Herausforderung angemessen gerecht werden zu können.

Eine ernstliche Wende in der Politik im Hinblick auf das Ziel einer kooperativen Sicherheitsarchitektur in Europa ist selbstverständlich nur möglich, wenn sich in der gegenwärtig überwölbenden Sicherheitsarchitektur Fenster der Gelegenheit ergeben. Doch da sind die Signale unüberhörbar. Die beiden Ex-NATO-Generalsekretäre Javier Solana und Jaap de Hoop Scheffer weisen darauf hin, dass „... sich die USA vor einem Jahrzehnt der Entwicklung separater verteidigungspolitischer Strukturen in der Europäischen Union widersetzten, ...“, sich das aber jüngst geändert habe. Die Außen- und Sicherheitsbeauftragte der EU, Federica Mogherini, hat sich ähnlich geäußert. Es wäre zudem schwer vorstellbar, dass mit dem Erfolg Trumps in den USA die US-Militär- und Sicherheitspolitik davon unberührt bleiben sollte. Es gilt eben: Wer seine Optionen nicht klärt, kann sie auch nicht ergreifen, wenn der Mantel der Geschichte überraschend eine Gelegenheit dazu hergibt.

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Jochen Luhmann

ist Senior Adviser des Wuppertal Instituts für Klima, Umwelt, Energie und Mitglied im Vorstand der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler (VDW).

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