Debatte

Vorbild Schweiz? Warum die direkte Demokratie Grenzen hat

Die Schweiz gilt als Paradebeispiel für Bürgerbeteiligung. Doch von der direkten Demokratie geht eine Gefahr aus, sagt der Medienforscher Jens Lucht: Nicht immer gewinnen die besten Ideen. Oft profitieren Provokateure und Populisten.
von Jens Lucht · 10. März 2017
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In Deutschland ist seit Jahren der Ruf nach mehr direkter Demokratie zu hören: dass direktdemokratische Elemente auf nationaler oder auf europäischer Ebene eingeführt werden sollen. Dabei wendet sich der Blick häufig nach Süden, in das gelobte Land der direkten Demokratie – die Schweiz –, um zu beobachten, wie direktdemokratische Verfahren in der Praxis funktionieren.

Fremdenfeindliche Abstimmungen

Die Ergebnisse dieser Beobachtung sind jedoch in Teilen irritierend. Wahrgenommen wird vor allem, dass das Schweizer Stimmvolk den identitätspolitischen Anliegen der rechtspopulistischen Schweizer Volkspartei (SVP), die die stärkste Partei der Schweiz ist, durchaus aufgeschlossen gegenüber steht. So ergreift die SVP häufig – und in den vergangenen Jahren vermehrt – die Mittel der direkten Demokratie, um immer wieder die Themen Migration und Ausländer zu bewirtschaften und fremdenfeindliche Abstimmungen zu lancieren, die häufig vom Volk gut geheißen werden.

So konnten die SVP und andere rechtspopulistische Gruppierungen zuletzt folgende Abstimmungen gewinnen: die „Minarettinitiative“ 2009 , die besagt, dass in der Schweiz keine Minarette mehr gebaut werden dürfen; eine Abstimmung zur „Ausschaffung“ – also Abschiebung – von „kriminellen Ausländern“ sowie eine zur „Masseneinwanderung“ 2014, die besagt, dass die Personenfreizügigkeit eingeschränkt werden soll.

Direkte Demokratie ist nicht einfach

Befürworter der direkten Demokratie in Deutschland lässt das zum Teil etwas ratlos zurück und sie fragen sich, warum ausgerechnet rechtspopulistische Akteure in diesem System offensichtlich gute Möglichkeiten haben, ihre Themen einerseits zu platzieren und andererseits mit diesen Themen auch zu reüssieren. Die Antwort darauf ist: Die direkte Demokratie ist voraussetzungs- und anspruchsvoll. Sie verlangt den Bürgerinnen und Bürgern, aber vor allem auch der öffentlichen Diskussion und deren Akteuren (Parteien, zivilgesellschaftliche Gruppen, Verbände, Medien u. a.) viel ab.

Da sich Abstimmungsentscheidungen in der direkten Demokratie mit deutlich geringerer Beteiligung des Parlaments als bei repräsentativen Systemen unmittelbar in politische und rechtliche Folgen umsetzen, kommt diesen Volks-Entscheidungen eine große Bedeutung zu. Daraus folgt, dass die öffentliche Diskussion gerade über die Abstimmungsthemen eine möglichst rationale, ausgewogene und die vielfältigen Ansichten zu dem Thema berücksichtigende Kommunikation sein sollte – kurz gesagt: an die öffentliche Diskussion zu diesen Themen müssen in direktdemokratischen Systemen noch höhere Qualitätsanforderungen als in repräsentativen Systemen gestellt werden (obwohl auch dort eine öffentliche Diskussion auf hohem Rationalitätsniveau wünschenswert ist).

„Medienpopulismus“: Nährboden für Populisten

Genau diese Qualität und das damit verbundene Rationalitätsniveau der öffentlichen Diskussion erodieren aber in den letzten Jahrzehnten, wie Untersuchungen zur Medienqualität der Schweiz gezeigt haben (vgl. Jahrbücher Qualität der Medien Schweiz 2010-2016, Forschungsinstitut Öffentlichkeit und Gesellschaft der Universität Zürich). Aufgrund der fortschreitenden Kommerzialisierung der Medien, die in der Schweiz relativ spät, dann aber rasch einsetzte, fokussierten die Medien mehr und mehr auf Formate, die Quote und Reichweite – und damit ökonomischen Erfolg – sichern. Es kamen vermehrt „Soft News“ auf, die politische Berichterstattung wurde verkürzt, emotionalisiert und personalisiert. Die Berichterstattung wurde konfliktorientierter und die Skandalisierung von politischen Akteuren und Institutionen nahm zu.

Dies alles ist ein fast perfekter kommunikativer Nährboden für populistische Akteure, deren Kommunikation genau diese Kommunikationsformen bedient. Der Politikwissenschaftler Gianpietro Mazzoleni hat hierfür den treffenden Begriff „Medienpopulismus“ eingeführt. So zeigen Analysen zu den oben genannten Abstimmungen, dass die SVP und ihre Argumentationslinien durch ihre konfliktive, tabubrechende und emotionalisierende Form der Kommunikation in der massenmedialen Berichterstattung zu diesen Volksabstimmungen eine besonders hohe Resonanz erzielte. Die genannten Effekte werden durch Social Media teilweise noch verstärkt, wie z.B. durch die „Echokammern“ von Facebook, in denen sich die User in ihrer Empörung gegenseitig hoch schaukeln.

Die Gefahr der direkten Demokratie

Das Beispiel Schweiz zeigt, dass direkte Demokratie von den Bürgerinnen und Bürgern und von der öffentlichen und politischen Kommunikation viel verlangt. Die Gefahr ist groß, dass sich hier derjenige durchsetzt, der am lautesten und provokativsten schreit und deshalb die meiste Aufmerksamkeit generiert.

Autor*in
Jens Lucht

ist Medienwissenschaftler am Forschungsinstitut Öffentlichkeit und Gesellschaft der Universität Zürich.

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