Von der Pflicht zur Kultur
In seinem Beitrag „Grundsätze sozialdemokratischer Kulturpolitik“ blickt Wolfgang
Thierse bis zu den Anfängen der Arbeiterbewegung zurück und stellt fest, dass der
Sozialdemokratie die Teilhabe an Bildung und Kultur schon immer als ein
notwendiges Moment von sozialer Gerechtigkeit gegolten hat.
Kulturpolitik definiert er als staatliches und kommunales Handeln im Bereich von
Kunst und Kultur in Form ihres Schutzes sowie der Sicherung und Gestaltung ihrer
politisch-gesellschaftlichen Rahmenbedingungen – Kulturpolitik soll der Autonomie
der Kunst dienen.
Die veränderten Bedingungen, im Besonderen der Prozess der Globalisierung würden
die Handlungsspielräume der nationalen Kulturpolitik nachhaltig verändern und eine
neue Kulturpolitik erfordern.
Als Orientierungsmaßstab dieser neuen sozialdemokratischen Kulturpolitik sollen
drei Leitbilder dienen: Vielfalt, Teilhabe und öffentliche Verantwortung.
Der Weg zu dieser neuen Kulturpolitik soll durch die Neujustierung des Verhältnisses
von staatlicher und kommunaler Politik, gesellschaftlicher Selbstverantwortung und
marktwirtschaftlichen Mechanismen gefunden werden.
Aus Sicht des Künstlers ist der Grundsatz, dass Teilhabe an Bildung und Kultur ein
notwendiges Moment von sozialer Gerechtigkeit ist, unverrückbar. Noch darüber
hinaus ist die Teilhabe an Bildung und Kultur zwingende Voraussetzung für eine
gelebte Demokratie und eine zivilisierte Gesellschaft.
Wolfgang Thierse ist also uneingeschränkt zuzustimmen, wenn er die Aufgabe der
Kulturpolitik darin sieht, dass staatliches und kommunales Handeln Kunst und Kultur
schützen und für sie geeignete Rahmenbedingungen schaffen muss. Und,
selbstverständlich, die Kulturpolitik soll der Autonomie der Kunst dienen.
Der Verrat an der Kultur
Es ist aber nicht der Prozess der Globalisierung, der die nationale Kulturpolitik
nachhaltig beeinträchtigt hat, sondern der schon seit vielen Jahren andauernde Verrat
an den eigenen kulturpolitischen Grundsätzen.
Die in den letzten 15 Jahren praktizierte Kulturpolitik hat Kunst und Kultur gerade
nicht geschützt und keine Rahmenbedingungen geschaffen, die dem Gedeihen von
Kunst und Kultur zuträglich gewesen wären.
Bildung fehlt
Schon in der Bildungspolitik wurde der Bereich Kunst und Kultur sträflich
vernachlässigt. Die vielfältigen Kunstformen werden den Schülern bestenfalls noch
rudimentär vermittelt. Kaum ein Schulabgänger ist überhaupt in der Lage, Angebote
aus dem Bereich Kunst und Kultur aufzunehmen, zu verstehen oder gar zu bewerten.
Ihm fehlen schlichtweg die dafür notwendigen Rezeptoren, da er sie in seiner
Ausbildung nie hat entwickeln können.
Es fehlen ihm aber nicht nur der Sinn für den Kulturgenuss an sich, es ermangelt ihm
damit auch an der Möglichkeit, den Wert eines kulturellen Angebotes einzuschätzen.
Für ihn selbst sind diese Angebote wertlos, da er nichts mit ihnen anfangen kann.
Ihren Wert für die Gesellschaft kann er nicht begreifen, da er die Wirkungsweise von
Kunst und Kultur nie erfahren hat.
Ein Beispiel: Wer sich während seiner Ausbildung nie ernsthaft mit Theaterstücken
hat auseinandersetzen müssen, wird danach auch kein Theater besuchen und nur
schwerlich nachvollziehen können, weshalb ein Theater ein unverzichtbare kulturelle
Einrichtung ist.
Die Nützlichkeitsdebatte
Die unzureichende kulturelle Bildung führt unweigerlich zu einer fehlenden
Wertschätzung kultureller Angebote. Dieser Effekt wird noch verstärkt, wenn die
kulturelle Infrastruktur zu allererst als Kostenfaktor angesehen und ihr unbestreibarer
Nutzen für unsere Gesellschaft nicht in gebührender Weise herausgestellt wird.
Die Kürzungen der Ausgaben im Kulturbereich haben aber nicht nur zu einer
zahlenmäßigen Reduzierung der kulturellen Angebote, sondern darüber hinaus oft zu
einem fast beschämenden qualitativen Rückgang dieser Angebote geführt.
Denn die rigiden finanziellen Vorgaben, die zunehmend bei Projekten aus dem
kulturellen Bereich gemacht werden, schließen die Gestaltungsspielräume, die die
Schaffung künstlerischer Werke erst möglich machen, weitgehend aus.
Mutlose Kulturpolitik
Man denke nur an die ganz überwiegende Anzahl der Fernsehfilme, die die
öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten produzieren lassen. Diese Filme sind sicher
vergleichsweise preiswert produziert, ein künstlerischer Wert aber ist in der Regel
kaum noch erkennbar. In diesen Fällen von Rahmenbedingungen zu sprechen, die der
„Autonomie der Kunst“ dienen, verbietet sich.
Bildung und Kultur werden also nicht durch den Prozess der Globalisierung bedroht,
sondern durch eine mutlose Kulturpolitik, die den unschätzbaren Wert von Bildung
und Kultur nicht deutlich und nachhaltig herausstellt. Eine Politik, die auch denen,
die die Werke der Kunst schaffen oder darbieten, den Künstlern, zunehmend die
Schaffens- und Existenzgrundlage entzieht.
Courage? Fehlanzeige
Vielfalt, das erstgenannte Leitbild, ist nur realisierbar, wenn es eine Vielzahl von
höchst unterschiedlichen Künstlern gibt, die ausreichend Gestaltungsspielräume
haben, um ihre künstlerischen Fähigkeiten zur Schaffung von Werken der Kunst zu
nutzen. Es fehlt nicht an der Bereitschaft der Künstler zur Offenheit oder an der
Fähigkeit zu wertbegründeten Entscheidungen, es fehlt an couragiertem Eintreten der
Gesellschaft und der Politik für die wesentlichen Grundsätze einer verantwortlichen
Kulturpolitik.
Nicht TTIP stellt eine verantwortliche Kulturpolitik und die kulturelle Vielfalt in
Frage, sondern schon die Bereitschaft, den Bestand der wesentlichen Grundsätze der
Kulturpolitik als Verhandlungsmasse zu begreifen.
Ermöglicht Teilhabe
Auch das Problem der Teilhabe am kulturellen Leben ist nicht auf Einflüsse von
außen zurückzuführen, sondern im Wesentlichen auf Fehler der vergangenen
Bildungspolitik.
Die Bildungspolitik muss dahingehend ausgerichtet sein, dass versucht wird, bei allen
Bevölkerungsteilen das Interesse für kulturelle Angebote zu wecken und allen
Interessierten die Möglichkeit zu eröffnen, diese Angebote auch nutzen zu können.
Dies darf jedoch auf keinen Fall zu Lasten der Künstler gehen, die von der Nutzung
ihrer Werke ihren und den Lebensunterhalt ihrer Familien bestreiten müssen. Es ist
vielmehr eine gesellschaftspolitische Aufgabe, Modelle zu entwickeln, die einerseits
die angemessene Entlohnung des Künstlers sicherstellen, andererseits aber auch der
gesamten Bevölkerung Teilhabe am kulturellen Leben ermöglichen.
Es gibt eine öffentliche Verantwortung
Öffentliche Verantwortung ist das dritte Leitbild, das Wolfgang Thierse nennt. Er
fordert, die öffentliche Verantwortung für Kunst und Kultur nicht aufzugeben. Er
meint aber eigentlich, nicht ganz aufzugeben, denn es gelte, „Kultur neu als
Vermittlungsaufgabe zu verstehen.“
Nein! Die öffentliche Verantwortung darf sich nicht nur auf eine Vermittlerposition
zurückziehen. „Denn Kultur ist kein Luxus, den wir uns entweder leisten oder nach
Belieben auch streichen können, sondern der geistige Boden, der unsere innere
Überlebensfähigkeit sichert“ (Richard von Weizsäcker).
Die Sicherung der Überlebensfähigkeit aber ist eine staatliche Kernaufgabe, der sich
der Staat in keinem Fall entziehen darf. Die Förderung des Kulturellen ist eine
Pflichtaufgabe des Staates und auch der öffentlichen Haushalte. Eine Verpflichtung,
die im Übrigen unabhängig davon besteht, ob die große Mehrheit bereit ist, „ihren
finanziellen Beitrag zu leisten, um ihre Bildungs- und Kultureinrichtungen auf hohem
Niveau zu erhalten.“
Verantwortliche und verfassungsrechtlich gebotene Kulturpolitik kann daher nicht an
Verbände, Verantwortungspartnerschaften oder dergleichen ausgelagert und - auch
nicht teilweise - marktwirtschaftlichen Mechanismen und der gesellschaftlichen
Selbstverantwortung überlassen werden. Ehrenamtliches-bürgerliches Engagement
mag bei der Organisation von Kulturangeboten im Einzelfall hilfreich sein, Künstler
ersetzen kann es nicht.
Ändert das Urheberrecht
Die Kulturpolitik hat durch die Bestimmung von geeigneten Rahmenbedingungen
einerseits zu gewährleisten, dass Freiräume - auch finanzieller Art -, die zur
Schaffung von Kunstwerken unabdingbar sind, in ausreichendem Maße gegeben sind
und andererseits, dass die von den Künstlern geschaffenen Kunstwerke der
Allgemeinheit grundsätzlich zugänglich sind. Dabei soll sie für die Autonomie der
Kunst und damit auch für ein Umfeld, das Künstlern das Schaffen oder Darbieten von
Werken der Kunst erst ermöglicht, Sorge tragen.
Konkret bedeutet dies, dass der Gesetzgeber z.B. das Urheberrecht dahingehend
ändert, dass der Urheber seine Rechte und Vergütungsansprüche in der Praxis auch
durchsetzen kann, ohne seine berufliche Existenz zu gefährden und im Bereich der
Sozialversicherung die Sozialversicherungsträger dahingehend verpflichtet, die
gesetzlich vorgesehenen Beiträge auch tatsächlich und effektiv einzuziehen – und
zwar nicht nur bei den selbständig arbeitenden Künstlern, die über die
Künstlersozialkasse versichert sind, sondern auch im Bereich der abhängig
beschäftigten Künstler.
Es ist und bleibt die vornehme Aufgabe des Staates, die Rahmenbedingungen, die das
kulturelle Leben bestimmen, in eigener Verantwortung festzulegen.