Debatte

Volksentscheide: Spielplatz für Demagogen oder mehr Demokratie?

Für mehr direkte Demokratie haben Sozialdemokraten immer schon gekämpft. In Zeiten von Brexit und „besorgten Bürgern“ ist jedoch Vorsicht geboten, findet Renate Faerber-Husemann. Ein Kommentar über die zwei Seiten der Bürgerbeteiligung.
von Renate Faerber-Husemann · 14. März 2017
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Als der Parlamentarische Rat nach dem Zweiten Weltkrieg am Grundgesetz feilte, herrschte noch tiefes Misstrauen gegen das Wahlvolk: Man wollte die junge Demokratie vor ihren Bürgern schützen. Die Mehrheit lehnte deshalb auf Bundesebene jede Form von Volksentscheiden ab.

Die Verführbarkeit der Massen

Vor allem Sozialdemokraten ist bei der repräsentativen Demokratie – dieser „Zuschauerdemokratie“ – immer wieder unbehaglich gewesen. Für mehr echte Mitwirkung weit über die Rituale an Wahlsonntagen hinaus haben sich  zahlreiche prominente Politiker vom einstigen SPD-Vorsitzenden Hans-Jochen Vogel bis zum verstorbenen Bundespräsidenten Johannes Rau mit Leidenschaft – und vergeblich – eingesetzt.

Dennoch überzeugte der Hinweis auf die Verführbarkeit der Massen durch einen Demagogen wie Adolf Hitler nicht nur die Väter und Mütter des Grundgesetzes, sondern er zieht bis heute. Dabei war dieses Argument schon damals nicht zu Ende gedacht. Denn Hitler war nicht durch Volksentscheid sondern durch Wahlen an die Macht gekommen. Und das Ermächtigungsgesetz, das ihm erst die ganze Machtfülle eines Diktators gab, war von Abgeordneten und nicht vom Volk verabschiedet worden.

Vorsicht vor der direkten Demokratie

Trotzdem ist es bis heute beim Misstrauen gegen die eigene Bevölkerung geblieben. Einzige Ausnahme: Bei einer Neugliederung des Bundesgebiets sieht das Grundgesetz Volksabstimmungen vor. Doch auch dann stimmen nur die direkt Betroffenen ab, wie etwa bei der geplanten und von der Bevölkerung abgelehnten Zusammenlegung der Länder Berlin und Brandenburg nach der Wiedervereinigung. Spätestens damals, so sagten viele Politiker und Intellektuelle bedauernd, wären eine gemeinsame neue Verfassung und eine Volksabstimmung über die staatsrechtlichen Grundlagen des Zusammenlebens fällig gewesen.

Das ist die eine Seite der Medaille. Es gibt aber eben auch die andere und damit gute Gründe, das Thema „direkte Demokratie“ mit Vorsicht zu betrachten: Wir leben in aufgeregten Zeiten, in denen sogenannte besorgte Bürger ihren Frust, ihre Ängste, ihren Neid laut herausbrüllen. Das Internet ist streckenweise zu einer Manipulationsmaschine voller Verschwörungstheorien verkommen. Feindseligkeit und Misstrauen begegnen jenen, die zur Mäßigung mahnen. Fast jeder demokratische Politiker kann inzwischen darüber ein trauriges Lied singen.

Einfache Antworten auf komplexe Fragen

Der Brexit ist nur das prominenteste Beispiel dafür, wie ein hochkompliziertes Thema von jenen mit den einfachen Antworten gekapert werden kann. Wollen wir in aufgeheizten Zeiten wirklich darüber abstimmen, ob und – wenn ja – wie viele Flüchtlinge wir aufnehmen? Glauben wir wirklich, dass der sogenannte einfache Bürger komplexe Themen besser durchschauen kann als die gewählten Politiker, die sich Sachverstand durch Fachleute einholen können – und das auch tun? Wollen wir uns den Deutschlandfahnen schwingenden Montagsspaziergängern ausliefern oder den Verschwörungstheoretikern, die nachts das Internet missbrauchen und mit ihrer Verachtung der politischen Eliten auf allen Ebenen dabei stetig wachsende Fan-Gemeinden um sich scharen?

In der Schweiz klappt das doch auch, lautet dann oft die Antwort. Doch Basisdemokratie ist bei 80 Millionen Bürgern sicher komplizierter als in der kleinen Schweiz. Und auch dort ist nicht immer klug, was bei Referenden herauskommt. Immerhin hat man die Frauen ganz basisdemokratisch bis in die 70er Jahre von den Wahlurnen ferngehalten.

Demos, Dialog, Petitionen: Mitsprache erkämpfen

Wenn es um die lebendige Demokratie und mehr Teilhabe für die Bürger geht, gibt es also mehr Fragen als Antworten. Aber auch heute haben Bürger genügend Möglichkeiten, sich einzumischen und dabei auch Erfolgserlebnisse zu haben. Etwa auf kommunaler oder Landesebene, wenn es um Schulen geht oder Schwimmbäder oder darum, ob im Stadtzentrum das nächste Einkaufszentrum gebaut werden soll. Ohne die bewährte Parteiendemokratie anzugreifen, könnten die Bürger sich sehr viel mehr Mitsprache erkämpfen als sie das in der Regel tun. Zum Beispiel durch Petitionen und Demonstrationen, durch die direkte Konfrontation der gewählten Abgeordneten mit ihren Wünschen und Forderungen, durch die Teilnahme an Diskussionsveranstaltungen und die Mitgliedschaft in einer demokratischen Partei. Wer wiedergewählt werden möchte, wird aufmerksam zuhören.

Das Elend ist nicht, dass die Instrumente für erfolgreiche Einmischungen fehlen, das Elend ist, dass sie zu wenig genutzt werden, vor allem von den jungen Menschen, um deren Zukunft – siehe Brexit – es ja vor allem geht.

Autor*in
Renate Faerber-Husemann

(† 2023) war freie Journalistin in Bonn und Erhard-Eppler-Biografin.

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