Debatte

Thema Inklusion: Entspannt Euch!

DER JUNGE und DAS MÄDCHEN erleben Trauriges, Lustiges, Versöhnliches. Eigentlich wie alle Kinder. Aber manches ist doch anders. Nachzulesen im Blog Kirstenmalzwei von zwei Müttern behinderter Kinder. Ein Interview mit Kirsteneins, alias Kirsten Ehrhardt.
von Yvonne Holl · 26. Januar 2017
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Frau Ehrhardt, viele ihrer Geschichten im Blog handeln von Ausgrenzung und Ablehnung. Ein geistig behindertes Mädchen darf nicht beim Plätzchen backen in der Schule mitmachen. Ein anderes Kind muss alleine auf dem Flur vor der Klassentür sitzen. Ist es wirklich so schlimm?

Ja. In der öffentlichen Diskussion wird  Inklusion derzeit sehr auf den Kostenaspekt reduziert. Dabei geht es nicht um mehr Personal, mehr Räume, mehr Ressourcen.

Sondern, was fehlt denn dann?

Viele Leute haben kein Bewusstsein dafür,  welche Verhaltensweisen ausgrenzend und verletzend sind. Oft steckt keine böse Absicht dahinter, das sind nicht alles schlechte Menschen. Es ist eher eine Mischung aus Gedankenlosigkeit, Routine  und Hilflosigkeit.

Was müsste sich ändern?

Der Schlüssel ist, nicht zu separieren. Wir müssten Bedingungen an allgemeinbildenden Schulen schaffen, die für alle Kinder passen.

Die skandinavischen Länder sind da sehr viel weiter. Dort wird zum Beispiel in der Schule einfach geschaut, wer braucht wie viel und welche Unterstützung. Unterrichtet wird gemeinsam.

Oder Italien, dort wurden schon vor 40 Jahren alle Sondereinrichtungen abgeschafft. Die heutige Generation kennt es gar nicht anders, als gemeinsam zu leben und zu lernen.

Schreiben Sie besonders krasse Einzelfälle auf oder schildern Sie eher die Normalität?

Wir wählen schon zugespitzte Fälle aus. Aber alle sind so passiert und es sind keine reinen Einzelfälle. Das zeigen uns auch die Reaktionen unserer Leser, die sich oft in Geschichten wiederfinden oder sagen: Das habe ich auch schon erlebt.

Was kommt besonders häufig vor?

Immer wieder müssen Kinder mit Einschränkungen zu Hause bleiben, weil ihr Schulbegleiter krank ist, oder sie können nicht am Ausflug oder der Klassenfahrt teilnehmen. Das Ausgrenzen fängt bei einfachen Sachen an. Wenn alle Kinder die Mathearbeit zurück bekommen, nur die drei Kinder mit Förderbedarf nicht, weil ihr Sonderpädagoge nicht da ist.

In mehreren Kurzgeschichten sind es ausgerechnet diese Fachleute, nämlich die Schulbegleiterin oder die Sonderpädagogin, die besonders unsensibel reagieren. Sind diese Helfer schlecht vorbereitet?

Nein. Aber sie haben – glaube ich – oft einen standardisierten oder schwierigen Blick auf Kinder. Sie betonen das anders sein und stellen die Probleme in den Vordergrund. Wir Eltern sagen statt dessen: Es sind Kinder, wie alle anderen, nur mit „special needs“, wie die Amerikaner es nennen.

Woher kommt dieses Betonen der Unterschiedlichkeit?

Ich denke, es hat mit der getrennten Ausbildung zu tun. Normale Lehrer studieren zum Beispiel Grundschullehramt. Sonderpädagogen studieren Sonderpädagogik. Das ist fast überall so, es gibt wenige Ausnahmen. Hamburg etwa hat die Ausbildungen zusammengeführt.

Noch einmal das Beispiel Italien: Dort studieren alle angehenden Lehrer gemeinsam, Sonderpädagogen erwerben noch Zusatzqualifikationen.

Es gibt auch fröhliche und ermutigende Geschichten in Ihrem Blog. Die meisten handeln von Begegnungen mit anderen Kindern. Tun sich Kinder leichter im Umgang mit Menschen mit Behinderung?

Ja, ja! Wirklich eindeutig. Für Kinder spielt Behinderung eine untergeordnete Rolle. Natürlich merken und sehen sie das, es ist aber nicht entscheidend. Für Kinder ist wichtiger:  Ist der nett, kann ich gut mit ihm spielen?

Kinder geht das Bedenkenträgertum der Erwachsenen ab. Deshalb halte ich das gemeinsame Aufwachsen auch für den Schlüssel für ein gutes Zusammenleben.

Wie kamen Sie zum Bloggen?

Kirsten und ich sind beide in Elterninitiativen engagiert und haben uns darüber kennengelernt und angefreundet. Wir haben beide Söhne mit Down Syndrom. Wir haben uns immer über unsere Erlebnisse ausgetauscht und über das, was wir von anderen Familien mitbekommen. Dann dachten wir, dass könnte man eigentlich veröffentlichen. Im Oktober 2016 haben wir unseren Blog gestartet.

Wie sind die Reaktionen?

Viele loben, dass es etwas Besonderes, etwas Neues sei. Dass wir die Probleme auf den Punkt bringen. Viele finden sich wieder in den Geschichten. Wir haben jetzt schon 30.000 Seitenaufrufe. Jeden Montag lesen über 1000 Leute die neue Geschichte.

Viele sagen, sie mögen unseren Humor. Das ist uns sehr wichtig. Wir wollen nicht bitter werden.

Was möchten Sie mit dem Blog erreichen?

Wir möchten zum Nachdenken über Inklusion anregen, auf kritische und gleichzeitig humorvolle Weise.

Wenn Sie einen Wunsch an die Gesellschaft hätten, in Bezug auf den Umgang mit behinderten Menschen, welcher wäre das?

Mein Wunsch: Entspannt Euch! Menschen mit Behinderung sind in erster Linie Menschen wie Du und ich. Lasst Euch auf sie ein.

 

 

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Autor*in
Yvonne Holl

ist Redakteurin für Politik und Wirtschaft.

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