SPD und Lebenswirklichkeit müssen wieder zueinander finden
„Die Wirklichkeit ist unser größter Widersacher“ hat Olof Palme einmal gesagt. Das lässt sich anhand der Diskussionen im heimischen Ortsverein gut nachzeichnen.
Was ist passiert?
Ich bin Ortsvereinsvorsitzender in der 9.500-Einwohner-Gemeinde Ehringshausen, gelegen in einem der am stärksten industrialisierten Kreise Westdeutschlands, einer Hochburg der Beschäftigung im industriellen Sektor. Ländlich, die meisten leben im eigenen Heim. Ein konservativ grundierter Landstrich. Aber einer, in dem – zuletzt 2005 – für die SPD 40+x Prozent zu holen waren. 26 Prozent der Zweitstimmen blieben.
Wir hatten einen gut besuchten Diskussionsabend mit unserer Bundestagsabgeordneten. Über 40 Gäste gingen überzeugt heim. Gutes Echo auch an Werkstoren, am Bahnhof, im Gespräch. Aber auch: Flüchtlingspolitik, Angst, verletztes Gerechtigkeitsgefühl und Ohnmacht.
Streitpunkt Flüchtlingspolitik
Bei Treffen von Ortsverein und Gewerkschafts-Ortsgruppe zeigte sich ab Juli 2015, dass der Flüchtlingszustrom spaltet. Euphorie und Hilfsbereitschaft stand starke Ablehnung gegenüber. Zuwanderung verderbe die Preise, am Arbeitsmarkt (vor allem für gering Qualifizierte) wie am angespannten Wohnungsmarkt. Es verstörte, wer kam: Frauen und Kinder zuerst ins Rettungsboot, so die allgemein anerkannte Maxime. Es kamen vor allem junge Männer.
Ich bat unsere Bundestagsabgeordnete und den Landesvorsitzenden, nicht hinter den Asylkompromiss von 1993 zurückzugehen. Anderenfalls drohe – wie schon 1993 – ein Absturz an der Wahlurne.
Furcht vor dem sozialen Absturz
Bei Wahlen geht es maßgeblich um die Auswahl zwischen Personen. Die Kandidatur von Martin Schulz freute alle. Ein angesehener Europapolitiker und auf Augenhöhe bei EU-Gipfeln. Eine Alternative zu Merkel und Schäuble. Dann: Der bei der Europawahl erfolgreiche Kandidat schrumpfte zum Ex-Bürgermeister von Würselen. Kompetenz in der Europapolitik – versteckt. Als hätten es sich Unionsstrategen ausgedacht.
Reizthema Arbeitsmarkt: Gestandene Arbeitnehmer mittleren Alters macht die Perspektive Angst, im Fall der Arbeitslosigkeit nach kurzer Zeit nur noch Leistungen „wie die Drückeberger, die nie geschafft haben“ zu erhalten. Ob das angesichts der Arbeitsmarktlage real ist – im Ortsverein und im Umfeld gibt es Beispiele dafür, dass Arbeitslosigkeit im vorgerückten Alter kein Dauerzustand ist – ist nicht allein entscheidend. Sondern, dass Leistung – jahrzehntelang hart gearbeitet – in kurzer Zeit entwertet erscheint.
Klima der Angst
Zunehmend kam die Sicherheitslage in den (ängstlichen) Blick. Im Inneren wegen zunehmender Wohnungseinbrüche und schwerer Gewaltverbrechen, auch von Tätern, die als Flüchtlinge gekommen waren. Mehr Menschen sagten, dass sie sich in bestimmten Ecken der Städte in der Gegend nicht sicher fühlen. Auch das verbunden mit dem Flüchtlingszustrom. Gruppen junger Männer sind für viele ein Grund, die Straßenseite zu wechseln.
Angst macht auch die Außenpolitik: Atomare Aufrüstung in Ostasien, russische Annexion der Krim und Besatzung im Osten der Ukraine (einem Land, das wegen auch von Russland garantierter Grenzen freiwillig seine Atomwaffen abgegeben hatte!), russische Großmanöver an der EU-Ostgrenze. Die Bundeswehr ist bei uns für die meisten eine geschätzte Größe. Ausgleich, Frieden – aber auch sich verteidigen können: Beides zählt.
Gerechtigkeit und Wert der Arbeit
Gerechtigkeit und Leistung gehören für uns zusammen. Immer wieder die Grundidee: Arbeit muss sich lohnen. Wer auf lange Zeit nicht arbeiten will, soll weniger haben als der, der unverschuldet nicht mehr arbeiten darf oder kann. Ererbte Privilegien und leistungsloser Reichtum stoßen ab. Vorzugsbehandlung nach Krankenversicherungsstatus, aber auch als hoch wahrgenommene Sozialleistungen für Leute, die nicht arbeiten wollen, und solche, die kommen: Das lehnen weite Teile unserer gesellschaftlichen Basis ab.
Das Thema Flüchtlingspolitik blieb. Ein rechtsradikaler Soldat konnte sich als Flüchtling registrieren lassen. Das befeuerte den verbreiteten Eindruck, dass ein Schmidt oder Müller sich für Steuer oder Sozialamt ins Kleinste durchleuchten lassen – aber nicht einmal seinen richtigen Namen sagen muss, wer einen Flüchtlingsstatus behauptet.
Die SPD als Teil des Problems
„Wenn den Leuten früher was nicht passte, zogen sie mit der Mistgabel zum Fürsten. Heute entscheidet der Konzernchef in Amerika, wie´s mir geht“ – Ausgeliefertsein, das fühlen viele in der Arbeitswelt. Das ist angesichts globaler Verflechtungen schwer zu ändern. Politik darf das Gefühl aber nicht verstärken. Elektromobilität wurde im Sommer 2017 propagiert. Der Verbrennungsmotor – ein Auslaufmodell? Vom Verbrennungsmotor leben bei uns in der Gegend viele. Niedersachsens SPD betonte die Verantwortung für die Arbeitsplätze und erreichte den Sieg. Im Bund hielten wir die Elektromobilität hoch. Und standen für viele Arbeitnehmer nicht mehr für sichere Arbeitsplätze.
Wir sind als Regierungspartei als Teil eines Problems wahrgenommen worden. Selbst schuld, denn es wäre unsere Aufgabe gewesen, die Schwächen der Union gerade in ihren herkömmlichen Kernkompetenzen rund um Europa, Sicherheit und Wirtschaft zu thematisieren. Das haben wir nicht getan. Unsere Partei hat Themen hochgehalten, über die an ihrer gesellschaftlichen Basis kaum gesprochen wurde. Soweit sie Themen von dort aufgriff, hat sie sie falsch angepackt. Sie wich, so die Wahrnehmung, drängenden Fragen aus.
Und deshalb wurde die Wirklichkeit unser größter Widersacher im Wahlkampf. Mit Angela Merkel, der Union und der AfD wären wir fertig geworden.
trat 1993 in die SPD ein, arbeitet als Jurist und ist seit 2006 (meistens glücklicher) Ortsvereinsvorsitzender in Ehringshausen