Debatte

So schwierig ist Inklusion: Das Leben mit einer behinderten Tochter

96 Prozent aller Kinder kommen gesund zur Welt – wie es ist, zu den anderen vier Prozent zu gehören, beschreibt die Journalistin Mareice Kaiser. Es ist ein Buch über das Leben mit ihrer behinderten Tochter, ein Buch über Anstrengung, Frust – und Glück.
von Yvonne Holl · 16. Dezember 2016

„Tom ist da. 3400 Gramm, 49 Zentimeter. Mutter und Kind sind wohlauf.“ Oder: „Marie kam gestern auf die Welt. Wir sind überglücklich.“ Wir kennen Geburtsmails: Kurz, knapp, das ganze Elternglück verpackt in wenige Zeilen. Gretas Ankunft im Leben wurde mit viel mehr Worten verkündet, im Buch füllen sie mehr als eine Seite. Denn Greta kam mehrfach behindert zu Welt. In ihrer Geburtsmail erklärten die Eltern einen Chromosomenfehler und warum auf dem Foto der Schlauch einer Magensonde zu sehen ist.

Der weite, schwere Weg zur Inklusion

Das Leben mit einem Kind ist wohl immer anders und anstrengender als die Eltern es sich vorstellen. Doch wie es ist, Wochen und Monate in Krankenhäusern zu verbringen, ungezählte Arztbesuche zu absolvieren und zwischen ungeheuren Sorgen um das Leben des Kindes und ungeheurer Anstrengung fast zermürbt zu werden beschreibt Mareice Kaiser in ihrem Buch „Alles inklusive – Aus dem Leben mit meiner behinderten Tochter“.

Es ist ein schonungsloses Buch, das die Journalistin verfasst hat. Eines indem auch Sachen stehen, die man eigentlich nicht schreibt oder sagt. Die ein Mensch aber eben doch denkt. Zum Beispiel: „Warum habt ihr nicht das kranke, behinderte Kind bekommen?“ – mit Blick auf rauchende Hochschwangere, an denen sie auf dem Weg zur Intensivstation vorbei geht. Weil Greta dort in der ersten Zeit versorgt wird und darum ringt, eigenständig atmen zu können.

„Die Krankenhaustage sind für uns so anstrengend wie ein 14-Stunden-Arbeitstag“, hat die Autorin notiert und dann aufgelistet, was an diesen Tagen anstand: Greta versorgen, auf Gespräche mit Ärzten und Ärztinnen warten, Milch abpumpen und – Diagnosen googeln. Weil zunächst gar nicht so klar ist, was Greta eigentlich fehlt. Schließlich stellt sich heraus, dass es unter allen seltenen Chromosemenfehler ein ganz besonders seltener ist.

„Alles inklusive“: Schonungslos und offen

Das besondere an „Alles inklusive“ ist, dass Kaiser einerseits sehr detailreich und offen den unvorstellbar anstrengenden Alltag der jungen Familie schildert. Mit allen unangenehmen Seiten. Zum Beispiel, wenn die Babykacke durch´s Badezimmer spritzt, weil die Eltern den Darm ihrer Tochter spülen müssen. Wie erschöpft Mutter und Vater in solchen Momenten waren. Und wie schlimm es ist, sein Kind so leiden zu sehen.

Dazu kommen Erwartungen und Reaktionen der Umgebung, leider oft auch Ablehnung. Zum Beispiel wenn auf einem Gartenfest die Oma des Gastgebers das Baby auf der Decke betrachtet mit den Worten: „Sowas gibt´s noch?“

Und dann ist da diese andere Ebene, die Feststellung, dass diese Familie ja, anders ist, aber doch genauso wie alle anderen. Nämlich ein Elternpaar mit einem entzückenden, Liebe spendenden Kind.

Besonders eindrücklich sind die Worte einer Freundin der Autorin, die Greta in den Schlaf wiegt und zum ersten Mal dieses Mädchen einfach als Kind wahrnimmt, das sich genauso durch Streicheln beruhigen lässt, wie ihr eigenes, nicht behindertes Kind.

„96 Prozent aller Kinder kommen gesund zur Welt. Meine Tochter gehört zu den anderen vier Prozent“, schriebt Kaiser. Und gibt diesen vier Prozent eine Stimme. Eine ziemlich laute. Denn schon vor Veröffentlichung des Buches hat Kaiser zum Thema publiziert, als Bloggerin auf der Seite Kaiserinnenreich, als Journalistin zum Thema Inklusion und auf Vorträgen.

Ein politisches Buch zum Nachdenken

„Alles inklusive“ ist auch ein politisches Buch, weil es all die Hürden nennt, die Behinderte trotz Inklusion überall gestellt bekommen. Wenn die Kita-Suche zum Albtraum wird, weil das Kind „zu behindert“ ist selbst für Einrichtungen, die mit Inklusion werben. Wenn die Eltern sich rechtfertigen müssen – für eigentlich alles, angefangen mit der Frage, ob sie etwa Untersuchungen in der Schwangerschaft versäumt haben bis hin zu Unverständnis, warum die Mutter eines behinderten Kindes doch tatsächlich arbeiten gehen will.

Ein Nachdenk-Buch auch für Nicht-Eltern, das anregt über Werte nachzudenken. Und das ganz viele Fragen anstößt, über Pränataldiagnostik, über Integration behinderter Menschen, über Behörden, die kleinlich permanent Anträge ablehnen, wo Unterstützung und Initiative gefragt wären. Es ist aber auch ein schönes Buch, weil es von Fürsorge und Liebe erzählt.

node:vw-infobox

Schlagwörter
Autor*in
Yvonne Holl

ist Redakteurin für Politik und Wirtschaft.

0 Kommentare
Noch keine Kommentare