Debatte

Sexualisierte Gewalt: Die Schuld liegt nicht bei den Opfern

Mal ein blöder Spruch, mal eine übergriffige Hand – diese Art der sexualisierten Gewalt ist für viele junge Frauen ständiger Alltag. Ist doch nicht so schlimm, denken die, die nicht betroffen sind. Was muss sich ändern? Jedenfalls nicht das Verhalten der Opfer. Ein Kommentar.
von Laura Tirier · 4. September 2017
Sich im Alltag angstfrei bewegen zu können bleibt für viele junge Frauen ein Wunschtraum.
Sich im Alltag angstfrei bewegen zu können bleibt für viele junge Frauen ein Wunschtraum.

Mein Freund ist kein großer Feminist. Das ganze Thema ist für ihn mehr ein Witz, ein Anlass mir aufzuzeigen, wie gleichberechtigt wir Frauen doch mittlerweile sind. In Deutschland wird man respektiert. Hier geht es einem als Frau doch gut. Diese Einstellung änderte sich – zumindest teilweise – eines Abends, als wir mit der Bahn unterwegs waren.

Er suchte uns Sitzplätze, ich lief ein paar Schritte hinter ihm, es war nicht gleich erkennbar, dass wir zusammengehörten. Da riefen mir plötzlich drei junge Männer hinterher: „Ey, Fotze! Ficken? Blasen? 20 Euro? Wie viel?“ Ich erstarrte kurz, lief dann weiter, ließ mich neben meinen Freund fallen und atmete tief durch. Er starrte mich an: „Erlebst du das öfter?“, fragte er. Ich lachte freudlos: „Das ist harmlos. Die haben mich ja nicht angefasst, oder?“

Sexualisierte Gewalt kennt keine Herkunft

Es passiert ständig. Eine Hand, die sich in der Bahn auf mein Knie legt, die sich im vollbesetzten Bus an meinen Hintern verirrt, die mir im scheinbar unbeobachteten Moment an oder in den Ausschnitt greift. Diese Aktionen sind dabei – meinen Beobachtungen nach – unabhängig von sozialer oder nationaler Herkunft.

Es war der afghanische Flüchtling, der sich im Park neben mich setzte und mir an die Brust griff. Es war der Student mit den zurückgegelten Haaren, dem weißen Hemd und der Hornbrille, der mich im Club von hinten packte und mir seine Erektion in den Rücken drückte. Und es war der ältere Mann, der mich vom Aussehen her an meinen Vater erinnerte, der mir unter den Rock fasste als wir nebeneinander an der Ampel standen.

Es wird schlimmer

Diese Art der Machtausübung destabilisiert das Selbstwertgefühl, degradiert und will klar machen: „Du stehst unter mir und ich kann mit dir machen was ich will.“ Vielleicht kommt es mir nur so vor, aber diese Art der sexualisierten Gewalt scheint zugenommen zu haben. Mehrere Frauen in meinem Umfeld erzählen davon, dass sich solche Vorfälle in den letzten Jahren häufen. Aber keine von uns hat irgendwas davon zur Anzeige gebracht.

Es war doch nichts, denkt man sich. Eine Anekdote für die nächste Party, ein Aufhänger um über „diese scheiß Sexisten“ zu reden, aber mehr doch auch nicht, oder? Es war ja keine Vergewaltigung. Auch wenn sich in mir beim Gedanken an diese Situationen alles zusammenzieht und ich mittlerweile Angst davor habe, abends allein unterwegs zu sein – und sei es nur für die zwei Minuten bis zum Kiosk. Genau wie meine Freundinnen banalisiere ich diese Erfahrungen vor anderen und vor mir selbst. Wir tun alle so, als sei das kein großes Ding, vielleicht auch um nicht zum hundertsten Mal „Stell dich nicht so an!“ zu hören.

Die Schuld liegt bei den Tätern!

Wer solche Dinge nicht selbst erlebt, versteht nicht, wie furchtbar das ist. Wenn ich von diesen Situationen erzähle, fragt mich meine Mutter was ich angehabt hätte. Mein Vater gibt mir zu verstehen, ich solle einfach abends nicht mehr rausgehen. Freunde von mir meinen, es hätte ja noch viel schlimmer sein können. Einer sagte mal zu mir: „Sieh es doch als Kompliment! Die finden dich halt scharf.“ Sie alle betreiben Banalisierung sexualisierter Gewalt oder Victim blaming – Opferbeschuldigung. Sie suchen die Ursache für das was passiert ist bei mir, anstatt die Gesellschaft oder die Mentalität zu hinterfragen, durch die sich manche Männer dazu berechtigt fühlen, anderen so etwas anzutun.

„Du bist einfach zu süß!“, sagte eine Freundin mal zu mir. „Die Männer denken, dass du dich nicht wehrst. Du musst eben eine abweisendere Ausstrahlung haben.“ Aber muss wirklich ich mich ändern, wenn ich nicht mehr begrapscht werden will? Anscheinend. In Deutschland wird lieber den Opfern gesagt, sie sollten „eine Armlänge Abstand halten“ anstatt klar und deutlich in Richtung Täter zu sagen: „Das tolerieren wir nicht! Egal unter welchen Umständen.“

Autor*in
Laura Tirier

war 2017 Praktikantin in der Redaktion des vorwärts. Sie studiert Geschichte und Politikwissenschaft an der Westfälischen Wilhelms Universität in Münster.

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