Debatte

Schulz: „Das Mittelmeer ist die tödlichste Grenze der Welt“

Seit 20 Jahren scheitert der Versuch effektive und humane Lösungen in der Migrationsfrage zu finden am Egoismus einiger nationaler Regierungen. Das ist wirklich eine Schande.
von Martin Schulz · 11. Juni 2015
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Das Mittelmeer ist die tödlichste Grenze der Welt. 5000 Menschen sind im vergangenen Jahr auf dem Weg nach Europa ertrunken. Diese Flüchtlinge flohen aus ihrer Heimat vor Krieg und Verfolgung, Hunger und Armut. In der Hoffnung, Schutz in Europa zu finden, begaben sie sich in die Hände skrupelloser Seelenfänger, die Kapital aus der Not von Menschen schlagen, und fanden den Tod.

Die Menschlichkeit gebietet es, Ertrinkenden die rettende Hand zu reichen. Die Seenotrettung hat deshalb höchste Priorität. Aber sie ist nur ein erster Schritt. Was wir endlich brauchen ist eine echte europäische Asyl- und Migrationspolitik. Doch seit 20 Jahren scheitert der Versuch effektive und humane Lösungen in der Migrationsfrage zu finden am Egoismus einiger nationaler Regierungen. Das ist wirklich eine Schande. Vor allem, wenn man sich vor Augen führt, dass allein der Libanon, ein Land mit 5 Millionen Einwohnern, eine Million syrische Flüchtlinge aufgenommen hat. Bislang haben fünf Prozent der syrischen Flüchtlinge Zuflucht in Europa gefunden. Der aktuelle Zustrom an Flüchtlingen ist die Folge dramatischer Konflikte in unserer Nachbarschaft. Menschen fliehen vor Bürgerkriegen, Staatsverfall, Terrorismus.

Europäisches Problem braucht europäische Lösung

Europa muss sich als ein Kontinent begreifen, der vor einer Herausforderung steht, die wir gemeinsam meistern müssen. Deswegen ist es gerecht und richtig, dass alle europäischen Länder ihren Beitrag leisten, wenn es um die Aufnahme von Menschen geht, die bei uns Schutz suchen. Wir haben es hier mit einem europäischen Problem zu tun, das nach einer europäischen, solidarischen Lösung verlangt.

Zu Recht hat deshalb die Kommission ein mutiges Programm vorgelegt, das ich voll und ganz unterstütze. Es sieht vor, Flüchtlinge nach einem Verteilungsschlüssel fairer unter den 28 Mitgliedsstaaten der EU aufzuteilen. Die Quote, die bestimmt, wie viele Flüchtlinge jedes Land aufnehmen muss, berechnet sich nach vier Kriterien: der Größe der Bevölkerung, der Wirtschaftsleistung des Landes, der Arbeitslosenquote, sowie der Anzahl der bisher bereits aufgenommenen Flüchtlinge. Bislang ist es so, dass nach dem "Dublin-System" der Staat der Ersteinreise für das Asylverfahren und die Unterbringung zuständig ist. Das lastet schwer auf den Mittelmeeranrainern wie Italien, Malta oder Griechenland und führt zu einer höchst ungleichen und ungerechten Verteilung der Schutzsuchenden. Derzeit gehen 70% aller Schutzsuchenden in fünf Länder. Ich halte den Vorschlag der Kommission für eine gerechte und überfällige Lösung und appelliere an alle Regierungschefs, den Forderungen nach Solidarität endlich auch Taten folgen zu lassen.

Temporärer Schutz notwendig

Der zweite Schritt ist die Schaffung eines Systems des temporären Schutzes. Derzeit werfen wir alle, die zu uns kommen wollen, in einen Topf: Menschen die einwandern wollen, Menschen, die Asyl suchen, Menschen, die vor Bürgerkriegen oder Kriegen fliehen. In den 1980er Jahren bot Deutschland tausenden Menschen, die vor dem Krieg im Libanon flohen, vorübergehend eine sichere Unterkunft. Diese Menschen kehrten nach dem Krieg in ihr Land zurück und bauten es wieder mit auf. Für diese Menschen ist Asyl nicht das richtige System, für sie brauchen wir den temporären Schutz.

Der dritte Schritt ist es, legale Einwanderung zu ermöglichen. Europa ist ein Einwanderungskontinent und deshalb brauchen wir ein System für die legale Zuwanderung -genau wie es andere Einwanderungsländer etwa die Vereinigten Staaten, Kanada oder Neuseeland haben. Ein System mit klaren Kriterien, wer kommen darf, und wer nicht. In der EU gibt es das nicht. In manchen Mitgliedstaaten besteht wegen der alternden Erwerbsbevölkerung dringender Bedarf an Migranten, in anderen Ländern nicht. Wir müssen dieser Tatsache Rechnung tragen. Selbstredend bedeutet eine vernünftige Migrationspolitik für Europa, dass es Regeln gibt, und bei fairen Regeln gibt es nun mal Einschränkungen und Prioritäten.

Wenn wir diesen Dreischritt gehen kommen wir einer solidarischen und europäischen Asyl- und Migrationspolitik ein großes Stück näher. Die Regierungschefs der 28 Mitgliedstaaten der EU sind jetzt gefordert. Wir können nicht weiter zusehen, wie vor unserer Tür die Menschen ertrinken. Jedes vor unserer Küste verlorene Menschenleben ist ein Schandfleck für Europa.

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Autor*in
Martin Schulz

ist Vorsitzender der Friedrich-Ebert-Stiftung. Er war von 2017-2018 SPD-Parteivorsitzender und von 2012-2017 Präsident des Europäischen Parlaments.

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