Debatte

Pro Förderschule: Lernen für ein selbstbestimmtes Leben

Wie können behinderte Kinder in der Schule am besten gefördert werden? Eltern wünschen sich vor allem eins: dass die Diskussion mehr vom Anerkennen der besonderen Bedürfnisse ihrer Kinder geprägt ist als von theoretischen Diskursen.
von Severin Höhmann · 20. Oktober 2015
Regel- oder Förderschule? Bei vielen Eltern von Kindern mit Behinderungen löst die Frage nach der richtigen Schulform Sorgen aus
Regel- oder Förderschule? Bei vielen Eltern von Kindern mit Behinderungen löst die Frage nach der richtigen Schulform Sorgen aus

Wenn von schulischer Inklusion gesprochen wird, löst dies bei vielen Eltern von Kindern mit Behinderungen Sorgen und Ängste aus. Diese Erfahrung habe ich als Elternsprecher einer Förderschule für Kinder mit geistigen Behinderungen gemacht. Denn so unterschiedlich die Behinderungsformen ihrer Kinder sind, so unterschiedlich sind die Wünsche und Erwartungen der Eltern an die Schulen, die ihre Kinder besuchen.

Beide Wege sind im Einzelfall richtig

Manche entscheiden sich ganz bewusst für den Regelschulbesuch ihres Kindes, weil sie der Überzeugung sind, dass ihr Kind dort gut gefördert wird und zugleich in einem ganz „normalen“ sozialen Umfeld heranwächst.

Aber es gibt auch Eltern, die die notwendige Förderung ihres Kindes eher in einer Förderschule mit kleinen Klassen, spezialisierten Lehrern und Erziehern und einer auf die besonderen Bedürfnisse von Kindern mit Behinderungen zugeschnittenen Ausstattung gegeben sehen. Auch diese Eltern unterstütze ich: beide Wege sind im Einzelfall richtig.

Wir Eltern haben den ganz selbstverständlichen Wunsch, dass die Schule unsere Kinder bestmöglich auf ein eigenständiges und selbstbestimmtes Leben vorbereitet. Und abhängig von Art und Schwere der Behinderung, von der Fähigkeit der Kinder am allgemeinbildenden Unterricht tatsächlich teilzunehmen (und nicht nur „mitzulaufen“) kann diese Vorbereitung auf ein selbstbestimmtes Leben auch und gerade an sonderpädagogischen Förderschulen erreicht werden.

Vorteile der Förderschule

Um es aus ganz persönlicher Erfahrung zu verdeutlichen: Unser Sohn, der inzwischen 15 Jahre alt ist, besucht seit der ersten Klasse die Helene-Haeusler-Schule in Berlin-Prenzlauer Berg. Er hat dort weder Schreiben, Lesen noch Rechnen erlernt – aber er hat gelernt, alleine zur Toilette zu gehen, den Tisch zu decken, sich anzuziehen und gemeinsam mit anderen Kindern alltägliche Aufgaben im Haushalt zu bewältigen. Er wird sicher keinen Schulabschluss erreichen, aber er wird hoffentlich durch all das, was dort tagtäglich mit ihm geübt wurde, nach dem Abschluss der Schule in der Lage sein, in einer betreuten Wohngemeinschaft eigenständig zu leben und in einem geschützten Beschäftigungsverhältnis eine erfüllende Arbeit auszuüben.

Was die Regelschule nicht lehrt

Und er wird auf eine Schulzeit zurückblicken können, die glücklich war – auch das ist wichtig. Das alles zu erreichen, wäre aus unserer Sicht in der Grund- und der weiterführenden Schule nicht möglich gewesen – denn all das, was Kinder mit Behinderungen an Alltagsfertigkeiten erlernen müssen, steht nicht auf der Tagesordnung einer Regelschule. So wie meine Frau und ich diesen besonderen Weg für unseren Sohn gewählt haben, tun dies viele andere Eltern auch. Und für diese Eltern sind Äußerungen von manchen Inklusionsbefürwortern, man wolle sein Kind in einem Schutzraum einsperren und es nicht am gesellschaftlichen Leben teilhaben lassen, nicht nur unsachlich, sondern verletzend.

Wie alle anderen Eltern wollen wir mit der Schulwahl das Beste für unsere Kinder erreichen. Wie alle Eltern kennen wir die Stärken und Schwächen unserer Kinder sehr gut und wissen, wo sie gefördert werden müssen. Und wie alle Eltern wollen wir, dass die Schuljahre für unsere Kinder auch Jahre sind, in denen sie eigene Lernerfolge erleben und sich nicht nur abgehängt fühlen.

Warum eine Sonderrolle in der Schule gewünscht ist...

Dies, und so manches mehr, sind die Gründe, warum einige Eltern von Kindern mit Behinderungen sich vor manchen Zwischentönen in der Debatte um schulische Inklusion fürchten, zumal vor solchen, die pauschal fordern, alle Kinder in eine Schule zu zwingen und die den individuellen Anspruch auf bestmögliche Förderung hinter das allgemeine und bisweilen auch dogmatisch vorgebrachte Ziel des gemeinsamen Unterrichtens stellen.

Für uns ist Inklusion wichtig, im Alltag, auf dem Spielplatz, in der Straßenbahn im Restaurant und überall sonst – dort wünschen wir uns sehr, dass wir und unsere Kinder nicht komisch angeguckt werden und in eine Sonderrolle gedrängt werden. Aber in der Schule wollen wir für unsere Kinder diese Sonderrolle, unsere Kinder brauchen eine exklusive Förderung, um sich nach ihren Möglichkeiten entwickeln und auf ein selbstbestimmtes Leben vorbereiten zu können.

...und mehr Toleranz

Wir wünschen uns, dass die Inklusionsdebatte mehr vom Anerkennen der besonderen Bedürfnisse unserer Kinder als von theoretischen Diskursen geprägt ist. Dass mehr mit uns, als über uns gesprochen wird. Und dass, trotz des wichtigen gesellschaftlichen Ziels der Inklusion, gerade beim Thema Schule nicht dogmatisch argumentiert, sondern Unterschiedlichkeit in den Schulformen und Bildungswegen zugelassen wird.

Autor*in
Severin Höhmann
Severin Höhmann

lebt mit seiner Frau und drei Kindern in Berlin. Er ist Elternsprecher einer Sonderschule für Kinder mit geistiger Behinderung und engagiert sich gesellschaftlich und politisch für das Thema Inklusion.

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