Platzeck: Ohne Entspannung mit Russland keine Sicherheit in Europa
Verständigungspolitik mit Russland ist eine realpolitische Notwendigkeit. Das war bei der Ostpolitik Willy Brandts und Egon Bahrs in den sechziger und siebziger Jahren nicht anders. Ohne eine Entspannung des Verhältnisses zu Moskau wird es keine Stabilität und keine Sicherheit auf dem europäischen Kontinent geben. Das aber muss unser vorderstes Ziel sein.
Sicherheitspolitik: Gefahr neuer Ost-West-Konfrontation
Die Debatte über eine neue Ostpolitik wird heute geführt, weil wir erkennen müssen, dass wir wieder in eine Konfrontation zwischen Ost und West driften. Die militärischen Muskelspiele in Europa führen uns die Brisanz der Lage vor Augen: Im Ostseeraum kommen sich russische und amerikanische Flugzeuge und Schiffe gefährlich nahe. 75 Jahre nach dem Überfall auf die Sowjetunion werden deutsche Soldaten nach Litauen an die russische Grenze entsandt. Russland erhöht die Militärpräsenz an seiner Westgrenze. Der Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz Wolfgang Ischinger warnt, dass die Gefahr, dass sich aus „Eskalationsschritten … militärische Kampfhandlungen ergeben“ heute größer denn je ist.
Nun ist guter Rat teuer, und wir erinnern uns einer politischen Strategie, die schon einmal erfolgreich war, als der Ost-West-Konflikt zu eskalieren drohte. Mit dem Mauerbau in Berlin und der Kuba-Krise wuchs in den sechziger Jahren das Bewusstsein für die Notwendigkeit, das Ost-West-Verhältnis zu entkrampfen. In diesem Prozess war die neue Ostpolitik von Brandt und Bahr eine wesentliche Triebfeder für den Spannungsabbau, der im Endeffekt in eine neue Ära führte. Die Charta von Paris hielt 1990 in ihrer Präambel fest: „Das Zeitalter der Konfrontation und der Teilung Europas ist zu Ende gegangen.“
Russland-Politik: Das Ruder herumreißen
Von dieser hoffnungsvollen Verheißung eines gemeinsamen europäischen Hauses, in dem alle gleich sicher wohnen, hat sich so gut wie nichts erfüllt. „Die Bilanz nach 25 Jahren ist mehr als ernüchternd“, resümiert Ischingers Vorgänger Horst Teltschik. Wir müssen uns offen und ehrlich mit der Frage auseinandersetzen, wie es dazu kommen konnte, dass wir heute erneut vor der Notwendigkeit stehen, das Ruder herumreißen zu müssen.
Der Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums hat in Russland ein politisches, wirtschaftliches und sicherheitsstrategisches Vakuum hinterlassen. Das westliche Europa konnte auf den Halt und Schutz seiner bewährten Institutionen, der EU und der Nato, bauen. Das kann inzwischen auch die Mehrheit der osteuropäischen Staaten. Russland ist in diese Systeme, insbesondere in eine europäische Sicherheitsordnung, nicht eingebunden – trotz ausgestreckter Hand: Putin hat 2001 im Bundestag eine vollwertige Partnerschaft angeboten; Medwedew legte 2008 in Berlin einen Vorschlag für einen europäischen Sicherheitsvertrag vor. All das blieb in Europa, auch bei uns Deutschen, ohne Resonanz.
Gesamteuropäische Sicherheitsarchitektur nötig
Vielleicht fehlte die politische Phantasie für eine neue gemeinsame Ordnung. Ganz sicher aber war man berauscht vom Triumph des eigenen Systems. Heute wirbt Europa mit einer „wertegeleiteten“ Politik selbstbewusst für seine demokratischen Errungenschaften. Dabei sind die realpolitischen Notwendigkeiten vor den wertepolitischen Zielvorstellungen immer weiter in den Hintergrund gerückt – und damit auch das Urthema, mit dem das Schicksal Europas steht und fällt: eine gesamteuropäische Sicherheitsarchitektur.
„Sicherheit ist unteilbar, und die Sicherheit jedes Teilnehmerstaates ist untrennbar mit der aller anderen verbunden.“ Was die Europäer sich mit der Charta von Paris ins Stammbuch schrieben, klingt heute, da die Gräben wieder aufgerissen sind, wie eine ferne Mahnung. Sie ist ein Auftrag für eine Politik der Verantwortung. Verantwortung heißt: die Folgen seines Handelns kalkulieren. Der sicherheitspolitische Scherbenhaufen, vor dem wir heute stehen, offenbart eine verheerende Fehlkalkulation. Nun ist die Stunde einer pragmatischen Realpolitik gekommen, wie sie die Neue Ostpolitik war. Eine Politik, in der Frieden, wie es Egon Bahr einmal ausgedrückt hat, „der oberste Wert“ bleiben muss.
Für konstruktive Ostpolitik
Wir müssen mit einer konstruktiven Ostpolitik die Risiken im Verhältnis mit dem auf unserem Kontinent „unverrückbaren“ Russland ausräumen und uns auf die Chancen einer partnerschaftlichen Zusammenarbeit konzentrieren. Die Schnittmenge unserer gemeinsamen Interessen – auch hier sollte man der Realität die Ehre geben – ist größer als manch einer in Europa und auch in Deutschland sich eingestehen möchte.
ist Vorsitzender des Vorstandes des Deutsch-Russischen Forums. Von 2005 bis 2006 war er Parteivorsitzender der SPD.