Neue Grenzen in Nahost
Herr Perthes, Sie sagen, wer den „Islamischen Staat“ als Terrormiliz bezeichnet, unterschätzt ihn. Was ist der IS dann?
Ich nenne den IS ein dschihadistisches Staatsbildungsprojekt. Dschihadisten sind extremistische Muslime, welche die Glaubenspflicht des Dschihad vor allem als Krieg interpretieren. Und wir haben hier das Projekt einen eigenen Staat zu gründen, also eher Taliban als al-Qaida.
Um wie viel gefährlicher macht das den IS?
Die Dschihadisten wollen Staat sein und agieren in vieler Hinsicht wie ein Staat. Sie rekrutieren Soldaten, haben ihre eigene Polizei und ihr eigenes Propaganda-Ministerium. Sie herrschen bereits über jeweils ein Drittel Syriens und des Irak, und damit über etwa acht Millionen Menschen. Das ist eine echte Volkswirtschaft! Sie exportieren Öl, versorgen Millionenstädte, besteuern Handel und Industrie. Wir haben also eine ganz andere Versorgungsgrundlage als bei einer Terror-Organisation.
Was bedeutet das für den Nahen Osten und für Europa?
Da sie das Konzept der Nationalstaaten und deren Grenzen ablehnen, sind sie eine Bedrohung nicht nur für Syrien und Irak, sondern auch für andere Staaten in der Region. Aus europäischer Perspektive ist gefährlich, dass dieses Staatsbildungsprojekt die gesamte Region in Unruhe hält, weiterhin große Flüchtlingswellen auslösen wird und, solange es erfolgreich ist, eine nicht zu unterschätzende Anziehungskraft für Menschen hat, die sich ungerecht behandelt fühlen. Die ziehen für den IS in den Krieg und kommen wieder nach Europa zurück, auch nach Deutschland.
Wie wahrscheinlich ist ein staatliches Gebilde in Teilen Syriens und des Irak unter Führung des IS?
Ich glaube, der IS wird nicht so schnell verschwinden, wie er entstanden ist. Er wird aber keinen funktionierenden Staat schaffen, weil dieses Staatsbildungsprojekt von Anfang an mit seinen Nachbarn im Krieg war. In dem Moment, in dem der IS tatsächlich ein Staat sein will, müsste er internationale Grenzen ebenso respektieren wie das internationale System. Dann aber wäre es nicht mehr der IS, wie er sich heute darstellt.
Welche Folgen hätte ein sozusagen moderater IS für die Reststaaten und das Machtgefüge im Nahen Osten?
Nun, Sie können sich einen Staatszerfall des Irak in drei Kantone vorstellen: eine kurdische Region, die Hauptstadt mit dem Süden sowie eine fast ausschließlich sunnitisch-arabische Region im Westen und Norden des Landes. Das wäre gefährlich für den Nationalstaat Irak, aber keine Bedrohung der Nachbarschaft durch Gewalt.
Das aktuelle Machtgefüge würde sich also kaum verändern?
Lassen Sie mich etwas zynisch sagen: Ob wir einen Irak haben, der nicht funktioniert, oder drei, die funktionieren, macht kaum einen Unterschied. Der Irak ist aktuell kein Spieler. Eine Konföderation von stark dezentralisierten Teilen könnte sogar besser funktionieren und den Irak irgendwann wieder zum Akteur in der Region werden lassen.
Es ist doch wahrscheinlicher, dass sich das Kalifat über Teile des Irak und Syriens erstreckt.
Das ist richtig. Faktisch ist Syrien zerfallen, wie der Irak, und ohne einen Politikwechsel in den Hauptstädten wird es nicht möglich sein, die Länder wieder zusammenzufügen.
Wir hätten also neue Grenzen in Syrien und dem Irak, aber sonst keine Störungen des Systems Nahost, weil die anderen Staaten nicht mehr bedroht werden?
Wir haben nicht so viele historische Präzedenzfälle, aber stellen Sie sich vor, die Taliban hätten darauf verzichtet, Osama bin Laden und al-Qaida einzuladen. Hätten wir dann Krieg gegen die Taliban geführt? Wohl nicht.
Kommen wir zurück zur tatsächlichen Bedrohung heute. Warum haben die regionalen Mächte und die Weltgemeinschaft den IS so lange gewähren lassen?
Weil sie nicht mitbekommen haben, dass er sich entwickelt.
Wie kann das sein, wenn die CIA überall Augen und Ohren hat?
Das müssen Sie die CIA fragen.
Das Nachbarland Türkei hat die Entwicklung doch ebenfalls genau beobachtet.
Ja, aber nicht alles, was man beobachtet, nimmt man deshalb auch richtig wahr. Das ist ein bekanntes Problem, und das gilt für Geheimdienste ebenso wie für Wissenschaftler, Journalisten und Politiker: Wir schauen auf Dinge, die wir kennen. Die beobachten wir, und darin sind wir dann in gewisser Weise Experten, und Experten haben immer das Gefühl, dass sie ihr Thema beherrschen.
Wenn nur eine Fehleinschätzung dazu geführt hat, dass der IS so groß geworden ist, warum ist dann die aktuelle Gegenwehr so gering und uneinheitlich?
Wegen der verschiedenen Interessen in der Region und der Selbstüberschätzung seitens der Politiker und Militärs. Die glauben mit bestimmten Problemen fertig zu werden, wenn sie ihr Hauptproblem, Baschar al-Assad, gelöst haben. Außerdem gibt es türkische Sicherheitspolitiker, die PKK und IS gleichsetzen, und deshalb den Kurden in Syrien nicht helfen wollen. Aber das ist eine Unterschätzung des IS, der bereits Zellen in der Türkei gebildet hat. Die konzentrieren sich zwar noch auf Syrien und den Irak, aber irgendwann können sie sich genauso gut gegen die türkische Regierung richten.
Nicht nur die Türkei hält sich zurück. Warum greifen die USA nicht stärker durch?
Die USA haben aus ihrer Irak-Erfahrung gelernt, dass sie ein Land nicht einfach neu ordnen können, indem sie ein paar zehntausend Soldaten hinschicken. Selbstverständlich hat man weiterhin Interesse daran, dass nicht der gesamte Nahe und Mittlere Osten in Krieg und Bürgerkrieg verfällt, dass freundliche Staaten wie Jordanien und der Libanon stabil bleiben und dass Israel nicht bedroht wird vom IS. Aber die wesentlichen politischen und militärischen Auseinandersetzungen, um den IS zu besiegen, müssen von lokalen und regionalen Kräften angeführt werden.
Ist die jetzige Allianz schon die Lösung oder braucht es noch mehr?
Aktuell sind wir noch nicht bei der Konfliktlösung, sondern mitten im Krisenmanagement. An dem hat sich auch die Bundesregierung auf ungewöhnliche Art und ungewöhnlich schnell beteiligt – mit Waffenlieferungen an die Peschmerga als Nothilfe. Die eigentliche Arbeit müssen aber die Kräfte vor Ort machen. Man kann nicht mit der Luftwaffe state building betreiben.
Vor dem state building muss man doch erst mal den jetzigen IS beseitigen.
Richtig. Man braucht zwar nicht unbedingt eine tabula rasa, aber ein Gemeinwesen, in dem die konstruktiven Kräfte sich entfalten können, und das ist zurzeit definitiv nicht der Fall.
Braucht man dafür Bodentruppen?
Ich glaube ja, aber die sollten lokale Kräfte stellen.
Das Konfliktmanagement ist also eine internationale Aufgabe, die anschließende Konfliktlösung eine lokale?
Nehmen sie ruhig die drei Ebenen: Die akute Nothilfe ist eine internationale Aufgabe, das Stabilisieren der Situation müssen regionale Kräfte leisten, und das state oder nation building obliegt der lokalen Bevölkerung.
Mit internationaler Unterstützung?
Ja, und dabei brauchen wir nicht nur an uns zu denken. Selbstverständlich können wir Föderalismus, aber auch Indien hat ein funktionierendes föderales System. Es geht darum zu überlegen, was internationale Spieler dazu beitragen können, aus einem zentralistischen System, das zu Autoritarismus geführt hat und gescheitert ist, ein föderales System zu machen.