Leitkultur: Warum wir endlich gestalten müssen, statt zu streiten
Thomas Trutschel/photothek.net
Deutschland ist heute ein Land mit über 81 Millionen Einwohnern und einer vielfältigen Gesellschaft. Inzwischen hat jeder Fünfte eine Einwanderungsgeschichte. Das heißt, wenn wir über den Wandel in unserer Gesellschaft sprechen, spielen Einwanderung und ihre Folgen dabei immer eine zentrale Rolle. Ich kann verstehen, dass die aktuell hohen Flüchtlingszahlen in Verbindung mit den Kriegen vielen Menschen Sorgen bereiten: Wer zieht da in die Flüchtlingsunterkunft in meiner Nachbarschaft? Ändert sich das vertraute Umfeld? Und dann auch weitergehend: Verschlechtern sich meine Ausbildungs- oder Arbeitsmarktchancen?
Aus den eigenen Erfahrungen lernen
Diese Bedenken, Sorgen oder auch Ängste müssen vorurteilsfrei artikuliert werden können. Und wir in der Politik müssen die Fragen ebenso sachlich und unaufgeregt beantworten. Vor allem die Fragen nach dem friedlichen und geregelten Zusammenleben mit denen, die bei uns über kurz oder lang bleiben werden. Ob der Begriff „Leitkultur“ diese Zusammenhänge trifft, darf in Frage gestellt werden. Wir haben ein Grundgesetz, das für alle Menschen in Deutschland gilt. Da steht alles Wichtige drin: Die Gleichstellung von Mann und Frau, das Recht auf freie Meinungsäußerung oder die Achtung der Menschenrechte. Und selbstverständlich müssen sich diejenigen, die zu uns kommen, auch an unsere Gesetze und Regeln halten. Aber das reicht natürlich nicht, um die tägliche Nachbarschaft, das alltägliche Miteinander zu gestalten.
Wir sollten aus unseren eigenen Erfahrungen lernen und schneller werden. Einwanderung hat es nach dem Zweiten Weltkrieg immer gegeben – die Gastarbeiteranwerbung seit 1955, der Familiennachzug ab den 1970er Jahren, die Einwanderung der Spätaussiedler ab den 1980er Jahren oder die Arbeitsmigration aus der Europäischen Union und aller Welt. Wir haben viel Zeit damit vergeudet, uns darüber zu streiten, ob wir überhaupt ein Einwanderungsland sind, anstatt es zu gestalten. Deshalb haben wir ganze 50 Jahre gebraucht, um endlich Sprach- und Integrationskurse gesetzlich zu verankern. Dabei haben wir zwischenzeitlich auch einiges richtig gemacht. Für die Aussiedler haben wir in den 1980er Jahren eine ganze Reihe von Maßnahmen – über Sprachkurse, Ausbildungshilfen bis hin zu Krediten – schnell und relativ unbürokratisch eingesetzt. Falsch war daran nur, Integrationshilfen von der ethnischen Herkunft abhängig zu machen und weniger von Bleibeperspektiven in unserem Land.
Faire Chancen auf Partizipation und Teilhabe
Unser Ziel muss heute sein, aus Flüchtlingen, aber natürlich auch aus anderen legalen Einwanderern, gute Nachbarn werden zu lassen. Was genau wäre da eine Leitkultur? Nicht jeder muss Fasching feiern, Schweinebraten essen oder deutschen Schlager lieben. In diesem Land sind wir auch ohne Einwanderung doch recht verschieden in unseren Vorlieben. Wichtig ist etwas ganz anderes: Dass alle Menschen – egal welcher Herkunft, egal ob mit oder ohne Einwanderungsgeschichte – faire Chancen auf Teilhabe und Partizipation in der Schule, bei der Bewerbung zur Ausbildung, am Arbeitsmarkt oder im Gesundheitswesen haben. Und dass es normal ist, deutsch zu sein und gleichzeitig andere kulturelle Wurzeln zu haben.
Der sozialdemokratische Slogan „Herkunft darf kein Schicksal sein“ ist aktueller denn je! Und darum müssen wir uns mit diesen Fragen jetzt auseinandersetzen.
ist als Staatsministerin im Bundeskanzleramt die Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration.