Leitkultur: Warum unser Grundgesetz als Wertekanon ausreicht
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Deutschland ist ein Land mit etwa 81 Millionen Einwohnern. Im letzten Jahr sind etwa 1 Million Menschen zu uns gekommen. Natürlich stellt das das Land vor große Herausforderungen. Aber diese sind aus meiner Sicht nicht vollkommen unlösbar. Allerdings dürfen bestimmte Fehler der Vergangenheit nicht wiederholt werden. Diese Gefahr besteht im Moment. Denn ein großer Teil der Kraft richtet sich derzeit auf die Notunterbringung und Erstversorgung. Doch das ist nur die Phase 1. Entscheidend wird das, was danach kommt: Phase 2, die Integration. Dafür brauchen wir einen Plan und konkrete Maßnahmen. Wir müssen Menschen nicht nur betreuen, sondern vor allem auch befähigen. Und wir müssen vermitteln, wie unser Land funktioniert, in dem es Regeln gibt, die für alle gelten.
Erkenntnisse aus Neukölln
Als Bezirksbürgermeisterin von Berlin-Neukölln bin ich für einen Stadtteil mit 326.000 Einwohnern verantwortlich, der seit vielen Jahren wie kaum ein anderer von Zuwanderung geprägt ist. Entwicklungen, die jetzt in vielen Städten Deutschlands ablaufen, haben sich bei uns schon vor vielen Jahren vollzogen. Integrationsprobleme, Bildungsferne und Parallelgesellschaften, aber auch eine Vielzahl von innovativen Lösungsansätzen für die interkulturelle Großstadt haben sich hier herausgebildet. Dabei sind einige Erkenntnisse immer wieder klar geworden:
- Es braucht integrierte und ganzheitliche Ansätze, die nicht die parallelen Strukturen verfestigen. Es kommt auf die Durchmischung der sozialen und ethnischen Gruppen an – in Wohnsiedlungen, in Schulklassen, in sozialen Projekten.
- Bildung ist der wesentliche Schlüssel. Dafür braucht es starke Bildungsinstitutionen: Frühkindliche Förderung und Sprachförderung in der Kita, Ganztagsschulen, Schulsozialarbeit, Elternarbeit, Berufsorientierung, Stadtteilarbeit.
- Die Grundwerte unserer freiheitlich, demokratischen Grundordnung, das Recht auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit eines jeden Einzelnen, müssen immer wieder aufs Neue verteidigt werden. Unsere Verfassung ist nicht verhandelbar.
Das Grundgesetz als gemeinsamer Nenner
Und darum geht es letztlich auch bei der Debatte um die Leitkultur. Alles was wir brauchen, steht in unserem Grundgesetz. Ich finde es richtig, sich zum gesellschaftlichen Wertekanon des Grundgesetzes zu bekennen, anstatt immer wieder eine Leitkultur einzufordern, deren Inhalt und Ausgestaltung in einem von Vielfalt geprägten Land so unbestimmt sein dürfte, wie die Zahl der Lebensentwürfe, die es hier gibt. Das Grundgesetz bietet genügend Raum für kulturelle Vielfalt, es sichert die Freiheit des Glaubens, die Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau und die Rechte von Minderheiten. Es setzt aber auch klare Grenzen und gibt Orientierung und bildet so die Grundlage unseres Zusammenlebens. Das ist der gemeinsame Nenner und wenn sich alle, die hier leben, daran halten, dann ist schon viel gewonnen.
Leider sind wir an diesem Punkt noch nicht. Denn dafür müssen Menschen, die hier neu ankommen, ihren Platz in der deutschen Gesellschaft finden können. Dazu gehört, dass sie Bildung erfahren und selbst tätig werden, dass sie einen Beitrag zum Wohlstand des Landes leisten können. Am Anfang kosten Willkommensklassen und zusätzliche Sprachkurse natürlich mehr Geld. Aber noch teurer wird es langfristig, wenn wir diese Investitionen nicht tätigen.
Starke Strukturen vor Ort
Und noch unverantwortlicher wird es, wenn wir die Integration und Aufnahme denjenigen überlassen, die die Parallelstrukturen noch verfestigen und Rekrutierungsversuche für verfassungsfeindliche Gruppierungen betreiben. Um dem entgegenzuwirken, braucht es starke Strukturen vor Ort – Kommunen und zivilgesellschaftliche Organisationen, die integrativ wirken und den sozialen Frieden zwischen denen, die da sind, und denen, die kommen, bewahren helfen.