Kopftuchdebatte: Den Blick freimachen für das Wesentliche
Das jüngste Urteil des Bundesverfassungsgerichts hat das politische Berlin in Aufruhr versetzt. Ein generelles Kopftuchverbot, so die obersten Richter, ist verfassungswidrig. Nordrhein-Westfalen hat seine Hausaufgaben inzwischen gemacht: Mit den Stimmen von SPD, Grünen, CDU und Piratenpartei wurde die Privilegierung der christlich-abendländischen Tradition aus dem Landesgesetz gestrichen, das generelle Kopftuchverbot aufgehoben. Warum? Nun, das Verfassungsgericht urteilte: Allein vom Tragen eines Kopftuches gehe keine abstrakte Gefahr aus.
In Berlin hingegen gibt es keine Privilegierung einer „christlich-abendländischen Tradition“. Das Neutralitätsgesetz regelt, dass keinerlei religiöse Symbole zulässig sind. Doch auch dieses generelle Verbot, welches eine Gleichbehandlung aller religiösen Symbole praktiziert, gibt der Berliner Rot-Schwarzen Koalition Hausaufgaben auf. Nämlich zu prüfen, ob dieses generelle Verbot dem Urteil des höchsten Gerichts standhält. Der aktuelle Innensenator Frank Henkel (CDU) lässt bis heute auf eine Stellungnahme warten.
Vielschichtiger politischer Diskurs
Derweil kocht die Diskussion. Die Fronten scheinen klar: Auf der einen Seite finden sich die Verfechter der absoluten staatlichen Neutralität. Auf der anderen Seite finden sich konfessionell Gebundene, die nun den Weg für deutsche Muslimas im Schuldienst öffnen wollen.
Dabei ist der politische Diskurs vielschichtig. Er wird hart geführt, schließlich geht es um nicht weniger als das Verhältnis von Staat und Religion im öffentlichen Raum. Es werden Fragen über das Verhältnis von Mehrheits- und Minderheitsgesellschaft verhandelt. Und nicht zuletzt geht es um das Emanzipations- und Geschlechterverhältnis hierzulande. Nun könnte man sich zurücklehnen und so lange abwarten, bis auch ein Berliner Fall vor das höchste Gericht zieht. Das wäre aber ein politisches Wegducken – schließlich ist diese Frage das Primat der Politik.
Raum für Zwischentöne
Obwohl sich das jüngste Urteil nicht nur auf das Kopftuch im Schuldienst bezieht, konzentriert sich die Debatte insbesondere darauf. Das Kopftuch polarisiert. Die Debattenbeiträge sind meist hitzig, selten sachlich-differenziert. Wegducken aber gilt nicht. Die Landespolitik darf nicht auf das Eingreifen der Gerichte warten. Es muss darum gehen, alle Positionen abzuwägen und die berührten Grundrechte miteinander in Einklang zu bringen. Dabei braucht es Raum für die Zwischentöne und die bislang unterbeleuchteten Aspekte der Diskussion. Dabei sehe ich vor allem das Emanzipationsverständnis und das Minderheit-Mehrheit-Verhältnis im Fokus. Als Sozialdemokratin steht für mich das Aufstiegsversprechen für alle unabhängig von Herkunft im Zentrum aller politischen Bemühungen. Denn das Aufstiegsversprechen macht den Blick frei für das Wesentliche: die soziale Frage.
Lassen sich hieraus Rückschlüsse für die Frage nach dem Kopftuch im Lehrerzimmer schließen? Klar ist: Das Äußere der Frau war und ist auch in dieser Diskussion Dreh- und Angelpunkt. Welches Emanzipationsverständnis wird mit einer kopftuchtragenden Lehrerin verbunden? Wie steht es um die ökonomische Unabhängigkeit und die Selbstbestimmtheit der Frau? Wie gestaltet sich die Wahlfreiheit für die kopftuchtragende Frau?
Wenn aus Ungleichheiten Benachteiligungen werden
Die Betrachtung des Mehrheit-Minderheit Verhältnis legt oftmals den Finger in die Wunde: genau dorthin, wo aus Ungleichheiten Benachteiligungen werden. Direkte oder mittelbare Benachteiligung wird sichtbar. Aus dieser Perspektive heraus werden wir mit der Arbeitsgruppe Migration und Vielfalt in der Berliner SPD auch der Frage nachgehen, ob sich beim Berliner Neutralitätsgesetz, welches ja alle religiösen Symbole gleichermaßen verbietet, eine Ungleichheit stiftende Wirkung bemerkbar macht.
Übrigens: Die Berlinerinnen und Berliner selbst sehen das ähnlich wie das Verfassungsgericht. Je jünger sie sind, desto entspannter ist ihr Verhältnis zu religiösen Symbolen bei Lehrerinnen und Lehrern. Für mich als Religions-distanzierten Menschen ist übrigens klar, dass ich das Kopftuch nicht mögen muss. Mein persönlicher Lebensstil aber – und das muss doch politische Richtschnur sein – darf nicht Maßstab werden auf der Suche nach einer politischen Antwort für die staatliche Neutralität.