Debatte

Keine Angst vor Big Data

Die automatische Auswertung großer Datenmengen kann ein Segen für die Gesellschaft sein, ist aber auch leicht zu missbrauchen. Deshalb muss die Politik klare Grenzen für Big Data setzen, um die Freiräume der Menschen zu bewahren.
von Viktor Mayer-Schönberger · 25. September 2014
Big Data
Big Data

Einen Blick auf die Wirklichkeit gewinnen, abseits von Vorurteilen und Vereinfachungen. Unsere Welt verstehen, so wie sie ist. In all ihrer Komplexität und Vielschichtigkeit. Das verspricht das nächste Kapitel des digitalen Lebens – Big Data, die Fähigkeit aus einer großen Menge an Daten Einsichten zu gewinnen, die uns bisher verborgen blieben. Und damit bessere Entscheidungen zu treffen, für uns selbst und unsere Gesellschaft.

Mit Big Data die Welt neu entdecken

Die Digitalisierung hat den Boden dafür bereitet, indem sie Information zugänglich macht und Menschen verbindet. Und indem sie informationelle Macht neu verteilt. Die Digitalisierung ist wie der Buchdruck ein Werkzeug, um Information fließen zu lassen. Dagegen ist Big Data wie die Aufklärung, die uns die Welt neu entdecken lässt, Status quo und Besitzstände in Frage stellt, uns aber auch eine neue Art des Denkens und Verstehens lehrt.

Big Data begegnet uns schon heute laufend im digitalen Leben: wenn wir im Internet suchen oder Webseiten in andere Sprachen übersetzen lassen, wenn Google aus Internet-Suchanfragen die Verbreitung der Grippe vorhersagen kann und neue Startups die Inflationsraten von Volkswirtschaften aus Milliarden Internetpreisinformationen besser und schneller berechnen als manche nationale Statistikämter. Aber das ist erst der Beginn.

Mit Big Data werden wir vorhersehen, welche Teile in unseren Autos kaputt gehen, noch bevor sie tatsächlich ausfallen (und können sie daher vorsorglich tauschen). Wir werden damit das Lernen neu erfinden, indem wir es für alle Schülerinnen und Schüler (und nicht nur für die privilegierten) genau auf deren individuelle Bedürfnisse zuschneiden können. Und wir werden länger und gesünder leben, weil wir uns auch in der Medizin von der Tyrannei des Durchschnitts verabschieden können. Denn niemand ist durchschnittlich, jede Person ist besonders und verdient damit auch eine besondere, auf sie zugeschnittene Diagnose und Behandlung.

Freiräume für den Menschen bewahren

Die Sozialdemokratie hat sich von Anbeginn dafür stark gemacht, dass wir die Wirklichkeit sehen wie sie ist. Und hat damit die Menschen bemächtigt. Genau in dieser Rolle ist sie in den kommenden Jahren von Big Data gefordert wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Es geht um nichts weniger als um die Zukunft unserer Gesellschaft: Wie wir entscheiden, wem die Macht dafür zusteht und auf welchen Grundlagen. Und welche Freiräume den Menschen bewahrt werden müssen.

Denn Big Data hat auch erschreckend dunkle Seiten. Nicht bloß, dass uns mit so vielen Daten unsere Vergangenheit stets zum Vorwurf gemacht werden kann, sondern vor allem auch, dass den Einzelnen durch Big-Data-Vorhersagen die Möglichkeit genommen wird, über ihre Zukunft selbst zu entscheiden und damit zu gestalten.

Wie werden wir reagieren, wenn Big Data uns in ein paar Jahren mit hoher Wahrscheinlichkeit verrät, ob ein junger Mensch ein guter Autofahrer werden wird oder nicht? Werden wir diesem Menschen dann den Führerschein bei bestandener Prüfung trotzdem geben? Wird er eine höhere Versicherungsprämie zahlen müssen als andere nur aufgrund einer Big-Data-Vorhersage? Oder wird er nur mit einem Big-Data-gesteuerten Auto ohne Lenkrad fahren dürfen? Werden wir ähnliches im Bildungsbereich einsetzen und Menschen ihre Wunschberufe nicht ergreifen lassen, nur weil die Big-Data-Analyse vorhersagt, dass sie in anderen Berufen besser sein würden? Oder Menschen gar einsperren, nur weil die Datenanalyse vorhersagt, dass sie wahrscheinlich ein Verbrechen begehen werden?

Weitsicht, offene Diskussion und Grenzen

In den USA sind manche dieser Szenarien schon Realität geworden. Dort zahlen Einserschüler weniger für ihre Autoversicherung (weil eine Datenanalyse ergeben hat, dass sie wahrscheinlich bessere Autofahrer sind), vermuten datenhungrige Unternehmen ganz früh Schwangerschaften ihrer Kundinnen aus subtilen Veränderungen im Kaufverhalten und kommen Straftäter nicht auf Bewährung frei, weil Big Data vorhersagt, dass sie rückfällig werden.

Wir stehen am Beginn einer neuen Ära des digitalen Lebens, in dem wir aus der riesigen Menge an Daten enorm viele neue Erkenntnisse gewinnen werden. Wie bei ähnlichen Paradigmenwechseln in der Vergangenheit brauchen wir auch dafür einen gesellschaftlichen Rahmen, in dem Big Data genutzt werden darf und soll, und in dem geklärt ist, welche Freiheiten wir uns als Einzelne und als Gesellschaft bewahren müssen.

Die Politik reagiert gerne und fokussiert auf das Hier und Jetzt. Bei Big Data aber ist dringend Weitsicht gefragt. Offene Diskussion. Und das Festlegen klarer Grenzen. Bitte nehmen Sie Ihre gesellschaftliche Verantwortung wahr!

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Autor*in
Viktor Mayer-Schönberger

Der Jurist Viktor Mayer-Schönberger ist Professor in Oxford und Bestseller-Autor. Sein neues Buch „Lernen mit Big Data“ ist diesen Herbst auf Deutsch beim Redline-Verlag erschienen. Er beschäftigt sich mit den gesellschaftlichen Folgen der Nutzung von Big Data und berät unter anderem Unternehmen, Regierungen und internationale Organisationen.

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