Debatte

Im digitalen Zeitalter gewinnt das Wort an Relevanz

Bei all den Katzenvideos und Selfies, die das immer schnellere Netz mühelos transportiert, hat die digitale Revolution vor allem eine Renaissance des Wortes gebracht. Das geschriebene Wort schafft Struktur, ermöglicht ein Urteil und schützt uns davor, angesichts der Datenflut durchzudrehen.
von Nils Minkmar · 10. Oktober 2014
placeholder

Wer in den achtziger und neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts studierte, hat vielleicht noch die Warnungen vor der großen „Bilderflut“ im Ohr und den sogenannten „iconic turn“. Diese Prognosen warnten davor, dass bald die elektronischen Bilder, über die neuen Kabel- und Satellitenkanäle billig und bunt transportiert, unser Bewusstsein bestimmen würden.

Dem 1980 gegründeten Kabelnachrichtensender CNN wurde eine große Rolle vorhergesagt, bald werde es Kriege geben, die nur nach guter Darstellbarkeit in diesem Sender ausgesucht und geführt würden. Manipulierte, suggestive Bilder würden die Menschen zu beeinflussen versuchen, niemand werde mehr lesen, geschweige denn schreiben. Das war, als ich studierte, eine oft zu hörende und nicht unplausible Perspektive. Es ist dennoch ganz anders gekommen. Entgegen aller Prognosen verbringen schon Schüler viel Zeit damit, ihre Sicht auf die Welt in kurzen Nachrichten, auf Twitter und in anderen sozialen Diensten, sogar auf Blogs in Worte zu fassen.

Was wichtig ist, wird geschrieben

Der treffende Kommentar, der Reisebericht oder der Tagebucheintrag sind bevorzugte, wesentliche Ausdrucksformen der Schriftlichkeit im Netz – was das illustrierende Handyfoto oder das kurze Video nicht ausschliesst, aber die Rangfolge scheint mir überraschend eindeutig: Wer Relevanz beansprucht, eine möglichst dauerhafte und leicht zu verbreitende Form der Kommunikation möchte, der schreibt.

Bei all den Katzenvideos und Selfies, die das immer schnellere Netz mühelos transportiert, brachte die digitale Revolution in diesem, ihrem ersten frühen Stadium, eine Renaissance des Wortes. Zwar wird es geschätzt, wenn eine Nachrichtenwebsite auch ein erklärendes Video im Angebot hat, aber das fällt eher unter die Abteilung luxuriöser Zusatz.

Das Wort strukturiert die Illusion vom endlosen Konsum

Dabei richten sich die lesenden Nutzer nach denselben neurologischen und sozialen Gesetzen, die schon beim Aufkommen des Buchdrucks galten: Schrift zwingt zur Konzentration, zum aktiven Filtern der Welt und zu ihrer Reduktion in nur 26 Zeichen plus Emoticons. Wie wäre es, wenn man die jedes Jahr weltweit mit Spannung erwartete Nachricht über den Literaturnobelpreisträger erst in einem ausschweifenden Video – und sei es noch so gut gemacht – abrufen müsste, statt sie in einem Satz auf das Smartphone zu bekommen.

Gerade weil die digitale Welt uns in eine Anthropologie der ewigen Maximierung bugsieren möchte, in der wir wie ewig regressive Riesenbabys von allem mehr und sofort möchten, erfüllt das Wort eine besondere, strukturierende Funktion, die der digitalkapitalistischen Illusion vom unendlichen Konsum auch mal etwas entgegensetzt. Allein schon, weil das Wort schnell und preiswert zu produzieren und, wenn es trifft, kaum zu kontrollieren ist.

Nur die Schrift bewahrt das Subjekt vor der Auflösung

Natürlich brauchen die historisch gewachsenen Produktionsbedingungen für Texte weiterhin und verstärkt Schutz, müssen Urheberrecht und Buchpreisbindung bei E-Books die Spielregeln vorgeben, denn es sind zivilisatorische Errungenschaften. Aber die digitale Revolution stärkt bislang eher die Kraft des Wortes durch eine dialektische Bewegung: Wo uns so viel an Bildern und Gefühlen verkauft werden soll, wird das geschriebene, verbreitete Urteil lebenswichtig, für die Demokratie und für uns selbst. Die digitale Revolution lebt vom Versprechen auf Fülle, auf dauernde Unterhaltung und permanente Relevanzproduktion. Doch nur das Wort vermag den Nutzer bei der „Sorge um sich“ zu unterstützen, wie Michel Foucault jene antiken kulturellen Praktiken bezeichnete, die das Subjekt davor bewahren können, durchzudrehen.

Schlagwörter
Autor*in
Nils Minkmar

ist Historiker, Publizist und Feuilleton-Chef der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.

0 Kommentare
Noch keine Kommentare