Debatte

Hilfe für Flüchtlinge beginnt in ihren Heimatländern

Wer das Sterben auf dem Mittelmeer beenden will, muss die Bedingungen in den Herkunftsländern der Flüchtlinge verbessern. Die Industrienationen wie Deutschland tragen dabei eine besondere Verantwortung. Ein Appell von Entwicklungspolitikerin Bärbel Kofler
von Bärbel Kofler · 7. Juni 2015
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Wir alle sind erschüttert von der menschlichen Flüchtlingstragödie, die sich im Mittelmeer, aber auch in anderen Regionen dieser Welt, wie beispielsweise in Südostasien, ereignet, und von den täglich neuen schrecklichen Bilder, die in den Nachrichten das Ausmaß des Elends in unsere Wohnzimmer tragen. In den vergangenen Wochen sind viele Fragen aufgeworfen worden und es werden neue politische Antworten gesucht. 

Klar ist, dass nur ein gemeinsames, solidarisches Bemühen der Staatengemeinschaft die Menschen vor dem Tod bei ihrer riskanten Flucht über die Meere schützen kann. Zuerst brauchen wir eine wirksame Seenotrettung, dann müssen wir uns um die Aufnahme der Menschen in allen europäischen Ländern kümmern und Hilfe beim Start in ein neues Lebens leisten.

Menschen fliehen aus ganz unterschiedlichen Gründen

Klar ist aber auch, dass, wer Fluchtursachen bekämpfen will, einen langen Atem braucht. Menschen fliehen aus ganz unterschiedlichen Gründen, die jeweils nachvollziehbar und berechtigt sind. Sie fliehen vor Konflikten und Kriegen, aus Angst vor politischer Verfolgung, aus Hunger, Armut, unbeschreiblichem Elend und absoluter Perspektivlosigkeit oder aus Folgen der Klimakrise. Viele Menschen verlassen ihre Heimat auch, weil die Staaten, in denen sie leben, nicht einmal ein Mindestmaß an Sicherheit leisten können.

Um in diesen fragilen Staaten wieder tragfähige Strukturen aufzubauen, ist dauerhaftes Engagement nötig. Wir können nur helfen, wenn wir die Herkunftsländer der Flüchtlinge unterstützen, damit sie den Menschen wieder Schutz, Arbeit und eine Zukunft bieten können. Auch die sozialen und ökonomischen Grundlagen in den Transitländern müssen verbessert werden.

Umfassende Strategie, um Fluchtursachen zu bekämpfen

Aufgabe der Politik ist es daher, neben den erforderlichen Sofortmaßnahmen auch eine umfassende Strategie zu entwickeln, um die Fluchtursachen zu bekämpfen. Die Entwicklungszusammenarbeit kann und muss hierbei eine Rolle spielen.

Neben unserer klassischen Entwicklungszusammenarbeit sind Fragen der fairen Handelsbeziehungen von besonderer Bedeutung, wenn wir einen Beitrag zur Reduzierung von Armut und Perspektivlosigkeit leisten wollen. Dabei kommt dem gerade stattfindenden G7-Gipfel in Elmau eine besondere Rolle zu ebenso wie den beiden UN-Konferenzen zur Entwicklungsfinanzierung in Addis Abeba im Juli und zu den Nachhaltigkeitszielen in New York im September dieses Jahres.

Von diesen Zusammenkünften der Staats- und Regierungschefs erwarte ich deutliche Impulse, damit die Staaten dieser Welt - und zwar alle - ihr Handeln so ausrichten, dass es entwicklungsförderlich und armutsbekämpfend ist. Das Prinzip der gemeinsamen, aber differenzierten Verantwortung steht in diesem Zusammenhang zurecht ganz oben auf der Agenda der gegenwärtigen Diskussion über eine neue Nachhaltigkeitsagenda. Es heißt nichts anderes, als dass auch wir unser bisheriges Handeln überprüfen und verändern müssen.

Entscheidendes Engagement der Entwicklungspolitik

Daher halte ich das Engagement der Entwicklungspolitikerinnen und Entwicklungspolitiker der SPD-Bundestagsfraktion für eine menschenwürdige Arbeit weltweit auch für entscheidend. Wir haben das Thema „verbindliche Standards in Handels- und Lieferketten“ im sozialen und ökologischen Bereich zu einem Schwerpunkt unserer parlamentarischen Arbeit gemacht, das jetzt auch auf die Gipfel-Agenda kommt.

Mitte Mai hat die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) in Genf einen Bericht vorgelegt, der sich mit den unsicheren, den prekären Arbeitsbedingungen weltweit auseinandersetzt. Wenn wir es ernst damit meinen, dass wir die Arbeitsbedingungen der Menschen in Entwicklungsländern verbessern und die Menschen aus der Armut herausholen wollen, dann müssen wir zur Kenntnis nehmen, was in dem Bericht steht: dass in Afrika und Südasien nur zwei von zehn Arbeitnehmern angestellt sind. Das heißt, alle anderen sind im informellen Sektor beschäftigt und haben damit keine soziale Absicherung, keinen Zugang zu irgendeinem Gesundheitsschutz und keinen Hintergrund, der es ihnen ermöglicht, aus eigener Kraft die Armut zu verlassen. Mehr als zehn Prozent der Arbeitnehmer verdienen unter 1,25 Dollar oder weniger am Tag, bei Vollzeitbeschäftigung.

Wir tragen eine Mitverantwortung

Die ILO sagt dazu: Mittlerweile sind 453 Millionen Menschen in 40 Ländern in globale Lieferketten eingebunden. Wenn das so ist, dann tragen wir aufgrund unserer industriellen Produktion, die in viele Länder dieser Erde ausgelagert ist, eine Mitverantwortung für die Standards und für das Leben und für das Arbeiten dieser Menschen. Diesen Standards müssen wir gerecht werden. Es muss auch darum gehen, das Thema der ILO-Kernarbeitsnormen und damit insbesondere des gewerkschaftlichen Rechts und der gewerkschaftlichen Beteiligung voranzubringen. Auch da hätten einige der Industrieländer noch Nachholbedarf.

Die gesellschaftlichen und ökonomischen Umbruchprozesse sind komplex und werden ohne die Entwicklung neuer Staatlichkeit kaum zu meistern sein. Wenn wir langfristig Fluchtursachen bekämpfen wollen, werden Fragen guter Regierungsführung und ein Aufbau staatlicher Institutionen die Schlüsselherausforderungen der kommenden Jahre sein. Darunter ist beispielsweise der Aufbau, die Weiterentwicklung und Konsolidierung von Verwaltungen, Steuer- und Gesundheitsinstitutionen in den Entwicklungsländern genauso zu verstehen wie die Unterstützung beim Aufbau eines Gerichts-, Justiz- und Polizeiwesens, in das die Menschen Vertrauen haben können. Die Entwicklungszusammenarbeit kann und muss hierbei einen wichtigen Beitrag leisten.

Globalisierung hat immer zwei Gesichter: Sie eröffnet Chancen für Schwellen- und Entwicklungsländer, stärker an der Wertschöpfung teilzunehmen. Wenn es uns gelingt, diese Wertschöpfung in einen Zuwachs von breitem Wohlstand zu übersetzen, können wir die Zahl der Menschen, die in absoluter Armut leben, signifikant reduzieren. Eine wesentliche Voraussetzung hierfür ist eine sozial und ökologisch nachhaltige Gestaltung von Globalisierung und Produktionsprozessen. Denn wenn Sozialdumping und Ökodumping vorherrschen, verbessern sich die Lebensbedingungen der Menschen nicht, im Gegenteil: dann zeigt sich die hässliche Seite der Globalisierung: eine Zunahme des Elends und kein Ende der gegenwärtigen menschlichen Tragödien auf ihren Fluchtwegen.

Autor*in
Bärbel Kofler
Bärbel Kofler

ist Bundestagsabgeordnete aus Traunstein und Beauftragte der Bundesregierung für Menschenrechtspolitik und Humanitäre Hilfe.

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