Europawahlen 2019: Wie in Polen und Ungarn gewählt wurde
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Warschau – Wahlbeteiligung verdoppelt
von Ernst Hillebrand
Die rechtsnationale Regierungspartei PiS unter Führung Jarosław Kaczyńskis hat die Europawahlen in Polen eindeutig gewonnen. Sie erzielte 45,6 Prozent, ihr bisher bestes Ergebnis bei nationalen Wahlen überhaupt. Mit 27 Mandaten schickt die PiS nun deutlich mehr Abgeordnete nach Straßburg als die CDU (23). Enttäuschend endeten die Wahlen für die in der „Europakoalition“ (KE) zusammengeschlossenen bürgerlichen und sozialdemokratischen Oppositionsparteien. Das Bündnis umfasst die EVP-Parteien aus Bürgerplattform (PO) und Polnische Volkspartei (PSL), der S&D-Partei Bündnis der Demokratischen Linken (SLD) sowie die Grünen und die Restbestände der liberalen Nowoczesna. Zusammen kamen diese Parteien auf 38,3 Prozent, was einen Verlust von über zehn Prozent gegenüber den letzten EP-Wahlen darstellt.
Verluste für Europakoalition
Unter den Erwartungen blieb auch „Wiosna“, die neue Partei Robert Biedrońs, die sechs Prozent erzielte (drei Mandate). Noch schlechter schnitten die nationalistischen Kräfte rechts der PiS ab, die mit 4,5 Prozent (Konfederacja) und 3,7 Prozent (Kukiz 15) den Einzug ins Europaparlament verpassten. Die Wahlbeteiligung verdoppelte sich fast, von 23,8 auf 45,6 Prozent.
Der eigentliche Einsatz dieser Wahlen waren weniger die Mandate in Straßburg, sondern die Frage nach der Ausgangsposition für die im Herbst anstehenden Parlamentswahlen. Sieg oder Niederlage bei den EP-Wahlen, so die allgemein geteilte Ansicht, würde die Ausgangslage für den Herbst drastisch verändern. Angesichts der verhärteten Polarisierung und einer geringen Anzahl von echten „Wechselwählern“ rückte die Mobilisierung der eigenen Wählerschaft ins Zentrum der Kampagne.
PiS bestimmte Wahlkampf
Dies gelang der PiS deutlich besser als der Opposition. Diese hatte gehofft, mit dem Schreckgespenst eines von der PiS betriebenen „Polexit“ die äußerst EU-freundlichen Polen für die KE zu mobilisieren. Als dieser Plan nicht aufging – die Wähler glauben schlicht nicht an den „Polexit“ – stand dem heterogenen Bündnis kein Plan B zur Verfügung. Vielmehr bestimmte die PiS über weite Strecken Themen und Rhythmus des Wahlkampfs. Europapolitische Themen spielten für keine Seite eine große Rolle. Vielmehr dominierten innerpolnische Angelegenheiten: von großzügigen Sozialleistungen der Regierung, über einen großen Lehrerstreik bis hin zur Pädophilie im katholischen Klerus. Das Wochenmagazin wProst kam auf nicht weniger als elf vermeintliche „game changer“ im Verlaufe des Wahlkampfes. Am Schluss waren die Wähler tatsächlich mobilisiert – und die PiS fuhr einen in dieser Höhe von niemandem erwarteten Sieg ein.
Für die polnische Linke ist das Ergebnis bitter. Sie erhielt zusammen acht Mandate, etwas mehr als ein Zehntel der polnischen Sitze (52). Dabei gelten die Europawahlen aufgrund der höheren Mobilisierung urbaner und europhiler Wähler als für die Linke vergleichsweise günstige Wahlen. Während die SLD als Teil der Europakoalition mit der erwarteten Wahl von fünf MdEP eine Minimalchance auf Wiederbelebung wahrte, kam das relativ schwache Abschneiden der Partei Robert Biedrońs überraschend. Die Hoffnung war, in die Nähe der 10-Prozent-Marke zu kommen.
Bitteres Ergebnis für polnische Linke
Die gesellschaftlichen Debattenthemen der letzten Wochen – vor allem ein im Internet ansehbarer Dokumentarfilm über die systematische Vertuschung von Pädophilie in der katholischen Kirche, der in kurzer Zeit über 21 Millionen Seitenaufrufe hatte – waren für die dezidiert laizistische Wiosna eigentlich günstig. Letztendlich hat sich der Raum zwischen den beiden großen Blöcken aber doch enger als erwartet erwiesen. Hinzu kam eine aggressive Kampagne der Europakoalition gegen Biedroń, der als Konkurrent im eigenen Lager gesehen wurde. Auch für Wiosna hat gestern der Kampf ums Überleben begonnen.
Budapest – Orbán verfehlt seine Ziele
von Beate Martin und Jörg Bergstermann
FIDESZ hat seine selbst gesetzten Ziele nicht erreicht und konnte „nur“ einen zusätzlichen Sitz im Europäischen Parlament erobern. In den von FIDESZ kontrollierten Medien wird dies als ein „historischer Sieg“ dargestellt, der den Kampf für ein Europa der Nationen, einen Stopp der Migration und den Schutz des Christentums voranbringt. In den nächsten Wochen wird sich zeigen, ob FIDESZ in der EVP bleiben kann und will, falls die Suspendierung aufgehoben wird.
Anti-europäischen Wahlkampf von FIDESZ
Die ungarische Bereitschaft hierzu dürfte seit gestern wieder gestiegen sein. Angesichts der absehbar schwierigeren Koalitionsbildung im EP ist zudem zu erwarten, dass sich Premier Orbán und seine rechts-nationalen Kollegen noch stärker auf den Europäischen Rat als Ort der Auseinandersetzung setzen werden.
Trotz einer monatelangen Mobilisierung und eines stark polarisierenden anti-europäischen Wahlkampfs konnte FIDESZ seinen bemerkenswerten Stimmenanteil von 50 Prozent nur marginal erhöhen. In der Opposition gibt es grundlegende Verschiebungen zwischen den Parteien. Die großen Gewinner sind DK (Mitglied der S&D-Fraktion) und Momentum (ALDE-Mitglied), die ihre Sitze von eins auf vier beziehungsweise von null auf zwei ausbauen konnten. Damit füllen letztere die liberale Nische in der ungarischen Parteienlandschaft.
Wahlbeteiligung bei rund 43 Prozent
Die sozialdemokratische MSZP konnte nach einem engagierten Wahlkampf zusammen mit Párbeszéd allerdings nur noch einen ihrer beiden Sitze halten. Es gelang ihnen nicht, ihr Profil zu schärfen und die Unterschiede zu den anderen Parteien hervorzuheben. Der Parteivorstand wird jedoch bleiben und den Wahlkampf für die im Herbst anstehenden Kommunalwahlen in Angriff nehmen. Verloren hat auch Jobbik, die inzwischen eher im Lager der Pro-Europäer angekommen sind. Größter Verlierer aber ist wohl die grüne LMP, die unterhalb der 5-Prozent-Hürde blieb und vor ihrer faktischen Auflösung stehen dürfte.
Noch nie zuvor haben so viele ungarische Wählerinnen und Wähler an Europawahlen teilgenommen: Die Wahlbeteiligung lag bei rund 43 Prozent im Vergleich zu 29 Prozent im Jahr 2014.
Beide Beiträge erschienen im ipg-journal, einer Debattenplattform für Fragen internationaler und europäischer Politik.