Erst im Ausland ein Deutscher
Obwohl wir derzeit ein Einwanderungsplus von rund 400.000 Neubürgern haben, rechnen Experten damit, dass die Bevölkerung in den kommenden Jahren schrumpft. Ab 2050 werden, so das Statistische Bundesamt, eine halbe Million mehr Menschen pro Jahr in Deutschland sterben als geboren. Um das auf dem Arbeitsmarkt auszugleichen, brauchen wir Einwanderung – darüber sind sich inzwischen Politiker parteiübergreifend einig. Nicht einig sind sie sich bei der Frage, wie das gesteuert werden soll und ob wir ein neues „Einwanderungsgesetz“ brauchen.
Zuwanderer oder Einwanderer?
Seit zehn Jahren regelt das „Zuwanderungsgesetz“ wesentliche Fragen rund um den Aufenthalt von Ausländern in Deutschland. Zuvor hatte die damalige rot-grüne Bundesregierung eine Arbeitskräftemigration per Punktesystem vorgeschlagen, die von CDU und CSU verhindert wurde. Der Kompromiss war das „Gesetz zur Steuerung und Begrenzung (!) der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthalts und der Integration von Unionsbürgern und Ausländern“ – kurz: Zuwanderungsgesetz. Der Begriff „Einwanderung“ kommt darin nicht vor. Der Unterschied: Als Zuwanderer werden alle Menschen erfasst, die nach Deutschland kommen, egal wie. Einwanderer sind Menschen, die länger bleiben.
Noch immer sind die Meinungen über die Notwendigkeit und die Inhalte einer Reform des Zuwanderungsrechts gespalten. Selbst innerhalb der Parteien ist man sich nicht einig. Unstimmigkeiten gibt es bei sowohl bei der SPD als auch bei CDU/CSU.
My german friend
Bedauerlich dabei ist, dass politische Debatten oft parallel zu akademischen Debatten verlaufen – ohne sich zu überschneiden und befruchten. So ist Migrationsforschern zum Beispiel seit Jahren klar, dass Deutschland kein Einwanderungsland ist. Die Bundesrepublik ist vielmehr ein Migrationsland: Menschen kommen und gehen. Und wer kommt, kommt nicht mehr unbedingt, um bis zum Lebensabend hierzubleiben. Auch die Auslandserfahrungen vieler zurückgekehrter Deutscher prägen die Gesellschaft. So gibt es zum Beispiel eine Geschichte, die immer wieder zu hören ist: Türkeistämmige Deutsche, die ein Schul- oder Studienjahr in den USA verbracht haben, haben sich dort zum ersten Mal als Deutsche gefühlt. Zum ersten Mal wurden sie als „my German friend“ vorgestellt oder gefragt, wie „ihr Deutschen das so handhabt“. In Deutschland finden sie sich in defizitorientierten Debatten über Menschen mit Migrationshintergrund und ihre Integrationsmängel wieder. Solche Entwicklungen müssten in politischen Konzepten stärker berücksichtigt werden.
Um zu erfahren, wie Experten die aktuellen politischen Fragen bewerten, hat der Mediendienst Integration die Mitglieder des Rats für Migration (RfM) nach ihrer Einschätzung gefragt. Der RfM ist ein bundesweiter Zusammenschluss von über 90 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die sich „für eine differenzierte, demokratische und weitsichtige politische Gestaltung von Migration und Integration“ einsetzen. Konkret wollten wir wissen, was die Wissenschaftler vom kanadischen Einwanderungssystem halten und welche Punkte ihnen bei einer Reform des Zuwanderungsrechts wichtig wären. (Zur Zusammenstellung der Ergebnisse.)
Vorbildlich in Kanada: das Integrationsministerium
Siehe da: Auch die Experten bewerten das unterschiedlich. Der Migrationshistoriker Prof. Dr. Jochen Oltmer fordert beispielsweise, sich zunächst einmal über die Ziele der Migrationspolitik zu verständigen. Ein erster notwendiger Schritt sei eine intensive politische Debatte – auch unter Einbeziehung der EU – um zum Beispiel ein "Weißbuch der Migrationspolitik" mit Grundlagen und Zielen zu entwickeln. Erst im zweiten Schritt gelte es dann, die richtigen Instrumente für die Umsetzung zu finden.
Vorbildlich am kanadischen Modell sei laut den Wissenschaftlern, dass dort ein Ministerium für Migration und Integration existiere, während in Deutschland noch immer das Bundesinnenministerium zuständig ist, das sich vorwiegend mit Sicherheitsfragen befasst.
Im Zentrum der aktuellen Debatte steht die Einführung eines Punktesystems nach kanadischem Vorbild. Dort werden in sechs Kategorien – Sprache, Bildung, Arbeitserfahrung, Alter, ein vorliegendes Arbeitsangebot und Anpassungsvermögen – Punkte an Einwanderungswillige vergeben. Das Punktesystem habe den Vorteil, dass es Klarheit in der Kommunikation schafft: man spricht ressourcenstarken Zuwanderern ein gewisses Vertrauen aus.
Strenge Auswahl garantiert weder Integration noch Produktivität
Allerdings sei eine Reform, die vorwiegend aus der Einführung eines Punktesystems besteht, keine Lösung. Eine strenge Auswahl sei noch keine Garantie dafür, dass Migranten besser integriert werden können oder „produktiver“ sind. Auch sei die Vorstellung, dass viele hochqualifizierte Drittstaatsangehörige nach Deutschland ziehen wollen, unrealistisch und entspreche nicht den Tatsachen. Bisher sind für hochqualifizierte Einwanderer vor allem Länder wie Australien, Kanada, Neuseeland, die USA und Großbritannien attraktiv.
Regeln sind vorhanden – aber unbekannt
Ein Grund dafür sei, dass die schon heute vorhandenen Einreiseregelungen – die mehr Möglichkeiten für Hochqualifizierte enthalten, als allgemein bekannt ist – an zwei Hürden scheitern: Sie sind kaum bekannt und zu restriktiv gestaltet. Die Forschung zeige, dass die Komplexität des derzeitigen Migrationsrechts dazu führt, dass die bestehenden Regeln oft nicht bei den Betroffenen ankommen. Grund sei vor allem, dass selbst Fachleute in den Ausländerbehörden oder in den Beratungsstellen vom komplexen Einwanderungssystem überfordert seien, das oftmals von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich gestaltet ist.
Sterben im Mittelmeer beenden
Auch lehnen viele Migrationsexperten eine Diskussion ab, die Migranten allein nach ökonomischen Kriterien bewertet. Sie müsse stattdessen konsequent an einer menschenrechtlichen Flüchtlingspolitik ausgerichtet sein. Ein Einwanderungsgesetz müsse die Bedingungen für die Aufnahme von Flüchtlingen verbessern. Wichtig wäre dabei, dass legale und sichere Einreisemöglichkeiten in den Schengen-Raum und nach Deutschland geschaffen werden, etwa durch andere Regeln für die Visa-Vergabe, um das Sterben im Mittelmeer zu beenden.
"Einwanderung in Phasen"
Der Ethnologe Dr. Norbert Cyrus empfiehlt, über eine „Einwanderung in Phasen“ nachzudenken. Menschen, die sich mit einer befristeten Aufenthaltsgenehmigung im Land befinden, sollen leichter die Möglichkeit bekommen, einen unbefristeten Aufenthaltsstatus zu erhalten. Und der Wechsel von einem Aufenthaltsstatus zu einem anderen müsse vereinfacht werden – zum Beispiel von Asylsuchenden zu Studierenden oder Auszubildenden.
ist Politikwissenschaftlerin und Journalistin. Sie leitet seit 2012 die Informationsplattform "Mediendienst Integration".